Eine Vision für nationale Einheit – Ein Interview mit Dr. Abaas Karim
Dr. Abaas Karim fragt in seinem jüngsten Werk „Konsensdemokratie und Nationenbildung im Irak und in der Autonomen Region Kurdistan“ nach dem Weg zur nationalen Einheit im Irak und in der Autonomen Region Kurdistan. Mit einem klaren Fokus auf die Umsetzung einer föderalistischen Konsensdemokratie nach Schweizer Vorbild zieht er Schlussfolgerungen aus einer umfassenden Analyse der politischen Landschaft und der Medienlandschaft vor und nach 2003. Seine Arbeit liefert wichtige Erkenntnisse darüber, wie die komplexen ethnisch-konfessionellen Dynamiken in diesen Regionen die Schaffung einer nationalen Identität beeinflussen.
Sie schlagen vor, dass der Irak und die Autonome Region Kurdistan eine politische Ordnung nach dem Vorbild der föderalistischen Konsensdemokratie der Schweiz anstreben sollten. Welches sind Ihrer Meinung nach die Schlüsselaspekte dieses Modells, die für die komplexen ethnisch-konfessionellen Dynamiken im Irak besonders relevant sind?
In der Schweiz arbeitete eine 23-köpfige Bundesrevisionskommission, die bereits vor dem Krieg (4. bis 29. November 1847), am 16. August 1847, von der ‹Tagsatzung› zwecks der Revision des Bundesvertrages von 1815 ernannt wurde, zwischen dem 17. Februar und dem 8. April 1848 den Verfassungsentwurf in Bern innert 51 Tagen und 31 Sitzungen aus. Dieses Meisterwerk gelang nur, weil mit der Einführung der zweiten Kammer (Ständerat) und der Beibehaltung der Dezentralität, die katholisch-konservativen Kantone für die neue Staatsordnung gewonnen werden konnten. Die Idee dahinter ist, Föderalismusprinzip vor Demokratieprinzip; «jeder Kanton eine Stimme und nicht jede Person eine Stimme». Diese zwei wichtigen Säulen des Konsenses (Zweikammersystem und Dezentralität) gibt es leider weder im Irak noch in der Autonomen Region Kurdistan.
Ihre Forschung basiert auf einer umfassenden Analyse kurdischer Medien und kurdisch-irakischer Forschungsliteratur vor und nach 2003. Was waren die auffälligsten Unterschiede oder Entwicklungen, die Sie in der öffentlichen Meinung oder der Berichterstattung in diesen verschiedenen Zeiträumen festgestellt haben, und wie haben sie die Idee der Nationsbildung beeinflusst?
Es ist zunächst festzuhalten, dass es von Beginn der britischen Invasion in den Irak im Jahr 1914 an bis zum Jahr 2003 keine einheitlichen irakische oder kurdische Positionen gab. Vielmehr waren es Ideologien und Gruppendynamiken, die im Vordergrund standen. So wollte ein Teil der kurdischen Intellektuellen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in der Stadt al-Sulaymaniah, dass die Kurden einen unabhängigen Staat unter der Schutzherrschaft Großbritanniens bekommen. Während andere Intellektuelle – mehrheitlich ehemalige Offiziere im Osmanischen Reich – eine Autonomie für die Kurdenregion im Rahmen eines einheitlichen Iraks verlangten. Bewaffnete Gruppierungen wiederum bevorzugten eine Zusammenarbeit mit der Türkei, damit die Kurden ihre Anliegen durchsetzen können. Auch ab 2003 blieb diese Heterogenität bestehen. Im Allgemeinen haben die eigenen wahrgenommenen Stärken einen großen Einfluss auf die Positionen der irakischen und kurdischen Gruppierungen gehabt. Dadurch konnte weder eine Nation gegründet noch Nationenbildungsprozesse in Gang gesetzt werden.
Als Angehöriger der Schweizer Armee mit Schwerpunkt Naher und Mittlerer Osten haben Sie eine einzigartige Perspektive auf geopolitische Fragen. Inwiefern könnten Ihrer Meinung nach externe Einflüsse und internationale Zusammenarbeit dazu beitragen, eine föderalistische Konsensdemokratie im Irak und in der Autonomen Region Kurdistan zu fördern?
Externe Akteure können durchaus einen positiven Effekt auf die Herausbildung einer Nation haben, wenn sie alle relevanten Akteure in einer Gesellschaft mit gleichem Maßstab behandeln. Das war bis anhin im Irak leider nicht der Fall: Die Briten bevorzugten im Irak der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die alten sunnitischen Herrschaftsstrukturen, während die Amerikaner ab 2003 die sunnitischen Kräfte marginalisierten. Zudem braucht es eine langfristige Investition und militärische Präsenz, damit ein angestrebtes politisches System etabliert werden kann.