Ihr Handbuch behandelt Zensur aus einer interdisziplinären und transhistorischen Perspektive. Welche neuen Erkenntnisse und Einsichten bietet Ihr Buch im Vergleich zu bisherigen Arbeiten zur Zensurforschung und wie tragen die Beiträge der verschiedenen Disziplinen zu einem umfassenden Verständnis des Phänomens bei?
„Unser Handbuch trägt den aktuellen Stand des Wissens über Zensur zusammen – das ist bislang so noch nicht geschehen. Wir analysieren Zensur in ihrer zeitlichen und räumlichen Ausdehnung, von den Anfängen bis heute und in ihrer globalen Dimension. Eine solche Herausforderung kann man nur interdisziplinär angehen: mit Zensurexpert:innen aus Geschichte, Soziologie und Theologie, aus den Philologien, den Politik-, Rechts- und Medienwissenschaften. Immer wieder zeigen sich dabei Synergieeffekte, so dass die Summe des versammelten Wissens mehr ist als die einzelnen Teile. Ein Beispiel: Ein vergleichender Blick auf Zensur auf allen Kontinenten zeigt Gemeinsamkeiten (z.B. den Zusammenhang von Kolonialismus und Zensur) und Unterschiede: Der formell-staatlichen Zensur in Autokratien und Diktaturen stehen informelle, nicht-staatliche Formen der Kommunikationskontrolle in demokratischen Rechtsstaaten gegenüber.“
In Ihrem Handbuch wird auch die aktuelle Relevanz von Zensur im Kontext globaler Krisen und politischer Veränderungen betont. Wie kann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen Formen der Zensur dazu beitragen, moderne Zensurpraktiken und ihre Auswirkungen besser zu verstehen und zu bekämpfen?
Die Antwort muss zweigeteilt ausfallen: „Zensur besser verstehen“: Dazu kann das Handbuch zweifellos beitragen. Es bietet einen umfassenden Überblick über Akteure und Betroffene, Institutionen und Praktiken, Mittel und Motive, Funktion und Wirkung von Zensur. Man lernt zwischen formellen und informellen Formen der Zensur zu unterscheiden. Man versteht z.B., welche Zensur unser Grundgesetz verbietet – nämlich nur die staatliche Vorabkontrolle – und welche nicht – etwa restriktive Eingriffe in die Kommunikation durch privatwirtschaftliche Unternehmen. Man weiß besser zu unterscheiden zwischen realen Zensurphänomenen und schlichter Zensurpolemik in Politik und Medien.
„Zensur bekämpfen“? Ob dieses Handbuch das erreichen kann, muss offen bleiben. Es macht vielleicht einen ersten Schritt, in dem es politische und gesellschaftliche Phänomene der Kontrolle und Restriktion von Kommunikation wissenschaftlich analysiert und dadurch sichtbar macht. Gerade wenn Zensurmaßnahmen wie Inhaftierung, Folter, Vertreibung, Mord beschrieben werden, kann schon eine solche Dokumentation aktivistisch und damit auch aktivierend wirken.
Das Handbuch richtet sich sowohl an Fachpublikum als auch an fortgeschrittene Studierende. Welche methodischen und inhaltlichen Ansätze bietet das Buch, die besonders für die akademische Lehre und die wissenschaftliche Weiterbildung von Nutzen sind?
Das Phänomen ‚Zensur‘ ist ein Chamäleon. Es hat so viele Facetten – und wird je nach Perspektive und Erkenntnisinteresse ganz unterschiedlich verstanden und definiert. Meint ‚Zensur‘ vor allem die institutionelle Vorabkontrolle von Texten, die mittels Index überprüft und aussortiert werden? Versteht man darunter auch weitergefasste gesellschaftliche, politische oder ökonomische Ein- und Ausschlussmechanismen? Was lernen wir aus vergangenen und gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die (Un-)Freiheit der Rede?
Um sich diesen Fragen zu nähern, kann man verschiedene Wege beschreiten. Es gibt sozialgeschichtliche, empirisch-historische, psychoanalytische, diskursanalytische oder feldtheoretische Zugänge zum Zensurthema. Auch in unserem Handbuch findet sich ein breites Spektrum methodischer und inhaltlicher Ansätze, um Zensur zu erforschen. All diese Ansätze können in Wissenschaft und Studium fruchtbar gemacht werden: Sie schärfen den Blick für eine der größten Herausforderungen unserer Zeit: den Kampf um die Meinungsfreiheit.