Sozialleistungsansprüche für Flüchtlinge und Unionsbürger:innen

30.08.2024

Sozialleistungsansprüche für Flüchtlinge und Unionsbürger:innen

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Gabriele Kuhn-Zuber und Ragnar Hoenig im Interview über Schwierigkeiten der Sozialberatungspraxis, Unterschiede bei Leistungsbeziehenden und die Bezahlkarte

Welche Schwierigkeiten bestehen im Zusammenhang mit Sozialleistungsansprüchen der von Ihnen in Ihrem Beratungsleitfaden behandelten Zielgruppen?

Sozialleistungen sind – wie für andere leistungsberechtigte Personengruppen auch – in unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern geregelt. Das stellt die Sozialberatungspraxis immer vor große Herausforderungen. Die besondere Schwierigkeit, die insbesondere bei geflüchteten Menschen hinzukommt, ist, dass die Leistungen vom jeweiligen Aufenthaltsstatus abhängen – sowohl was Umfang und Form der Leistung als auch was die jeweilige Rechtsgrundlage betrifft. Beratende in der Migrationsberatung benötigen so umfangreiche Kenntnisse über sehr komplexe Rechtsgebiete – das Asyl- und Aufenthaltsrecht einerseits und das Sozialleistungsrecht andererseits. Wir haben in unserem Beratungsleitfaden versucht, die Komplexitäten aufzugreifen und miteinander zu verzahnen, indem wir immer ausgehend vom jeweiligen Aufenthaltsstatus die zustehenden Sozialleistungen zugeordnet haben.

Warum unterscheiden Sie zwischen geflüchteten Menschen und Unionsbürger:innen?

Unionsbürger:innen, d.h. Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, haben aufgrund des EU-Rechts eine besondere Rechtsstellung, die sie von anderen Migran:innen aus sog. Drittstaaten unterscheidet. So haben sie ein EU-rechtlich garantiertes Recht auf Gleichbehandlung, dürfen gegenüber deutschen Staatsangehörigen nicht diskriminiert werden und verfügen über gemeinschaftsrechtlich festgelegte Grundfreiheiten – z. B. die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder Dienstleistungsfreiheit. Es gibt eine Vielzahl von eigenen Rechtsvorschriften, die die Flexibilität der Unionsbürger:innen fördern, Diskriminierungen abbauen und durch die Koordination der Rechte, auch im Bereich der sozialen Sicherheit, eine enge Verbindung zwischen den Mitgliedstaaten fördern und weiterentwickeln sollen. Allerdings haben auch Unionsbürger:innen keinen uneingeschränkten Zugang zu deutschen Sozialleistungen, vor allem dann nicht, wenn sie nicht erwerbstätig sind oder wenn es keine anderen Aufenthaltsgründe gibt. Gerade beim Zugang zum Bürgergeld für erwerbslose Unionsbürger:innen gab und gibt es eine umfangreiche Rechtsprechung; hier hat der Gesetzgeber strenge Vorschriften geschaffen, die eine übermäßige Inanspruchnahme dieser Leistungen verhindern sollen, die sich aber von den Regelungen für Migrant:innen aus Nicht-EU-Ländern teilweise unterscheiden. Diese Besonderheiten machten eine Trennung zwischen beiden Personengruppen erforderlich.

Ist die vom Gesetzgeber geschaffene Regelung, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht mehr bar, sondern über eine Bezahlkarte auszugeben, geeignet, Geldtransfers an Schleuser und in die Heimatländer zu vermeiden?

Zunächst einmal bestand bereits vor Einführung der Bezahlkarte im Asylbewerberleistungsgesetz die Möglichkeit, Leistungen mittels Sachleistungen und unbaren Abrechnungen zu erbringen. Der Ausschluss von Bargeld für Asylbewerberleistungsberechtigte ist eine Regelung, bei der man künftig sehen muss, ob die beabsichtigten Ziele mit den Einschränkungen für die betroffenen Menschen in einem verfassungsmäßigen Verhältnis stehen. Die Bezahlkarte soll nur ein beschränktes Bargeldabhebelimit haben –  diskutiert werden 50 EUR pro Monat und 10 EUR für Kinder; hinzu kommt noch die Forderung, dass die Bezahlkarte regional auf den Wohnsitz beschränkt einsetzbar ist. Die Rechtmäßigkeit der Einschränkung auf 50 EUR ist gerade vom Sozialgericht Hamburg in einem Eilverfahren für eine schwangere Leistungsberechtigte angezweifelt worden. Dass 50 EUR Bargeld im Monat kaum ein Mindestmaß an Teilhabe gewähren, dafür aber ein Maximum an Autonomieverlust und Diskriminierungsgefahr bringen, ist kaum zu bestreiten. Der Einkauf auf Flohmärkten, Märkten, Second-Hand-Shops wird nicht mehr möglich sein – Orte, wo zumindest die Möglichkeit günstiger Einkäufe bestand. Es gibt zudem keine belastbaren Fakten, dass Asylbewerber:innen Geld in ihre Herkunftsländer überweisen. Der notwendige persönliche Bedarf, der maximal 204 EUR beträgt, kann gerade in Erstaufnahmeeinrichtungen auch in Form von Sachleistungen erbracht werden und steht dann sowieso nicht als Bargeld zur Verfügung. Nach Schätzungen der Bundesbank gehen 75% der Auslandsüberweisungen in europäische Länder, einschließlich in die Türkei und die Ukraine. Nur ein kleiner Teil (ca. 12%) geht an „klassische“ Asylherkunftsländer und da wohl vor allem von Menschen, die in Deutschland bereits Arbeit gefunden haben. Letztlich ist es doch sehr zweifelhaft, ob die Bezahlkarte Menschen, die vor Kriegen, Hunger und Elend fliehen, abschreckt, die Flucht anzutreten oder auf die Hilfe von Schleusern zu verzichten.

Prof. Dr. Gabriele Kuhn-Zuber ist Professorin für Rechtliche Grundlagen der Sozialen Arbeit und der Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen und derzeit Präsidentin der Hochschule. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Teilhabe- und Rehabilitationsrecht, Pflegerecht, Recht der existenzsichernden Leistungen und Sozialverwaltungsrecht.

Prof. Dr. jur. Ragnar Hoenig ist Professor an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, Institut für Soziales Recht, der Technischen Hochschule Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Recht der sozialen Mindestsicherung, Recht der gesetzlichen Rentenversicherung und den Vverfassungsrechtlichen Grundlagen des Sozialrechts.

Gemeinsam geben sie den Beratungsleitfaden Sozialleistungsansprüche für Flüchtlinge und Unionsbürger heraus.