Ein Gespräch mit Prof. Dr. Eckart Conze über die Bedrohungen der Demokratie, historische Parallelen und die Rolle der Geschichtswissenschaft in Zeiten politischer Unsicherheit
Die Demokratie steht an einem Scheideweg. Seit Jahren erleben westliche Demokratien eine beispiellose Häufung von Krisen. Finanzkrise, Migration, Pandemien und der Krieg in der Ukraine haben das Vertrauen in politische Institutionen erschüttert. Nationalistische Bewegungen gewinnen an Einfluss, radikale Strömungen erstarken. Doch wie neu sind diese Entwicklungen? Wir sprachen mit Prof. Dr. Eckart Conze, einem der führenden Historiker Deutschlands. Im Interview zieht er historische Parallelen zu früheren Krisenzeiten, besonders zur Weimarer Republik.
Seit längerem ist von einer Krise der Demokratie die Rede. Viele Menschen haben das Gefühl in einer Zeit außergewöhnlicher politischer Unsicherheit zu leben. Wird diese Einschätzung auch in historischer Betrachtung bestätigt oder ist dies vor allem eine subjektive Wahrnehmung?
„Was wir als Krise der Demokratie bezeichnen, speist sich aus einer Serie von Herausforderungen, denen westlich-demokratische Gesellschaften seit einer Reihe von Jahren in großer Intensität ausgesetzt sind. Wir sprechen mittlerweile, zumeist schlagwortartig und nicht sonderlich analytisch, von Polykrise oder Multikrise. Das begann mit der Finanzkrise der Jahre seit 2007, hinzu traten die Dynamiken der Migration, verstärkt seit 2015, es folgten Covid-19 und schließlich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine seit 2022. All diese Entwicklungen, in ihrer unmittelbaren zeitlichen Abfolge, ja in ihrer Gleichzeitigkeit, übten und üben enormen Druck auf die Gesellschaft aus und auch auf ihre politischen Systeme. Und hinzu kommen Grundentwicklungen von großer Macht, die diesen Druck noch verstärken: die rasant und trotz aller Renationalisierungstendenzen voranschreitende Globalisierung oder die Medien- und Kommunikationsrevolution. Wandel erzeugt in historischer Perspektive stets Unsicherheit, aber die multiplen Herausforderungen in ihrer Überschneidung und ihrer wechselseitigen Verstärkung sowie das enorme Tempo der Veränderungen erhöhen die Verunsicherung der Menschen zusätzlich. Und es fehlt nicht an politischen Kräften, die von dieser Verunsicherung profitieren, weil sie einfache Lösungen auf höchst komplexe Fragen versprechen.“
Seit einigen Jahren ist in Deutschland aber auch international ein Erstarken radikaler Strömungen – insbesondere auch nationalistischer Natur – zu beobachten. Sehen Sie Parallelen zur Weimarer Republik?
„Nationalismus ist eine der Antworten auf gesellschaftliche Krisenwahrnehmungen und Unsicherheitserfahrungen. Dahinter steht die Vorstellung, ein starker nationaler Staat könne Schutz vor Unsicherheit und Krise bieten, er könne insbesondere ein Bollwerk bilden vor dem Ansturm der Globalisierung und den Problemen einer globalisierten Welt. Nationalismus als politische Ideologie ist extrem anpassungsfähig und präsentiert sich in immer wieder neuem Gewande als Antwort auf die Herausforderungen der Zeit, auf Unsicherheiten, Ängste und – tatsächliche oder vermeintliche – Bedrohungen. Auf dieser Ebene liegen die Parallelen zur Weimarer Republik beziehungsweise zur Zwischenkriegszeit. Denn es geht ja nicht nur um Deutschland. Besonders gefährlich ist der Nationalismus immer dann, wenn er antidemokratisch und antiliberal daherkommt, wenn er behauptet, die liberale Demokratie zerstöre die Nation und bedrohe die nationale Gemeinschaft. Oder wenn er die Idee einer homogenen, einer politisch, aber auch ethnisch homogenen Nation propagiert und jede Pluralität, Voraussetzung und Ziel liberaler Demokratie, abstreitet.“
Welche Rolle spielten wirtschaftliche Krisen und soziale Unruhen in der Destabilisierung der Weimarer Republik? Gefährdet die aktuelle Krisenphase der deutschen Wirtschaft die Demokratie im Land?
„Wirtschaftliche Krisen, die Hyperinflation zu Beginn, der Konjunktureinbruch der Großen Depression am Ende der Weimarer Republik, trugen mit ihren sozialen und politischen Folgen fraglos zur Destabilisierung der Demokratie bei. Aber der Begriff der Destabilisierung setzt ja Stabilität voraus, und eine stabile Demokratie hat es in Deutschland nach 1918 nicht gegeben. Eher verhinderten wirtschaftliche Krisen und soziale Unruhen also die Entwicklung, die Stabilisierung der Demokratie. Hinzu kam, dass die Deutschen 1918 über keine demokratische Erfahrung verfügten, sondern geprägt waren vom Autoritarismus des Kaiserreichs. Die Freiheit einer liberalen Demokratie kannten sie nicht – so wie die Ostdeutschen nach 1990. Da war es leicht, Instabilität und Unsicherheit der Demokratie zuzuschreiben und Stabilität und Sicherheit der gestürzten Monarchie – oder, nach 1990, dem untergegangenen SED-Staat. Aber man darf den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Stabilität und Demokratieakzeptanz nicht unterschätzen. Demokratien brauchen ein gewisses Maß an wirtschaftlichem Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit, um auch dadurch Legitimität zu gewinnen. Eine eingewurzelte Demokratie ist in der Lage, mit wirtschaftlichen Krisen, die es immer geben wird, umzugehen, ohne dadurch existentiell bedroht zu sein.“
2024 stehen in Ostdeutschland einige wichtige Wahlen an. Immer wieder wird über eine mögliche Kooperation von AfD und CDU gesprochen. Könnte eine politische Zusammenarbeit konservativer und rechter Kräfte – mit Blick auf die jüngere deutsche Geschichte – eine Gefahr für die Demokratie bedeuten?
„Jede Regierungsbeteiligung, in welcher Form auch immer, von rechtsradikalen oder rechtsextremen Kräften – und darüber reden wir mit Blick auf Thüringen, Sachsen oder Brandenburg – bedeutet eine Gefahr für die Demokratie. Und schon jetzt gehört die parlamentarische Repräsentation einer in weiten Teilen rechtsradikalen Partei wie der AfD zu den Bedrohungen der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie. Das beantwortet die Frage nach der Zusammenarbeit. Der Vergleich mit Weimar führt hier nicht wirklich weiter, weil damals sowohl die etablierten Rechtsparteien konservativ-nationalistischer Provenienz, allen voran die DNVP, als auch die Nazis die Republik bekämpften und die Demokratie zerstören wollten. Das war die Basis ihrer Zusammenarbeit.“
Die Fremdenfeindlichkeit hat zuletzt auch aufgrund populistischer Rhetorik zugenommen und unter dem Begriff Remigration eine neue Stufe erreicht. Auch in den 1920er Jahren wurde ein Feindbild gegen eine gesellschaftliche Gruppe aufgebaut. Sind wir trotz der umfangreichen Aufarbeitung unserer Geschichte geschichtsvergessen?
„Nationalismus lebt von kollektiver Identitätsbildung durch Abgrenzung, völkischer Nationalismus von der Vorstellung ethnisch bestimmter Identität. Da liegen die Parallelen. Was heute unter dem Begriff der Remigration vertreten wird, meint nichts Anderes als Deportation. Das ist die radikale, menschenverachtende Antwort auf die in der Tat komplexen Herausforderungen von Migration und Migrationspolitik. Weiter kann man von den demokratischen, freiheitlichen und humanistischen Werten des Grundgesetzes überhaupt nicht entfernt sein. Die Rechtsextremen haben es mittlerweile geschafft, in unserer Gesellschaft die Vorstellung zu verankern, man könne sich für oder gegen Migration entscheiden. Das aber ist völlig falsch. Wir leben in einer migrantisch geprägten Gesellschaft – und das nicht erst seit 2015 – und Migration wird Politik, Gesellschaft und Kultur weiterhin bestimmen. Vor diesem Hintergrund muss es um Migrationspolitik gegen, nicht um die Errichtung von Schutzwällen, um den Umgang mit Migration, nicht darum, sie rückgängig zu machen, um ein angeblich verlorenes Paradies wiederherzustellen, das es nie gegeben hat.“
Im Gegensatz zu den meisten anderen demokratischen Systemen, hat Deutschland seine Geschichte viel stärker aufgearbeitet. Trotzdem beobachten wir in unserem Land ähnliche Tendenzen wie in vergleichbaren anderen Ländern. Hat unsere Erinnerungskultur versagt? Welche Verantwortung hat die Geschichtswissenschaft?
„Nein, unsere Erinnerungskultur, die ja – in Westdeutschland – lange Jahre brauchte, bis sie sich entfalten und gesellschaftlich wirksam werden konnte, hat nicht versagt. Es ist ja, zynisch gesprochen, fast tröstlich, dass Deutschland heute von ganz ähnlichen politischen Entwicklungen betroffen ist wie andere westliche Gesellschaften auch. Das zeigt doch, wie sehr Deutschland Teil des Westens geworden ist und mit den gleichen Problemen konfrontiert ist wie andere westliche Gesellschaften, Frankreich, Großbritannien oder die USA, auch. Wir werden den Herausforderungen der Gegenwart in Deutschland auch nicht gerecht und wir werden sie nicht bewältigen, wenn wir glauben beziehungsweise uns darauf verlassen, dass die deutsche Vergangenheit schon gegen neuen Nationalismus, gegen Demokratiefeindschaft oder Rassismus immunisieren werde. Die Erfahrungen der deutschen Geschichte müssen immer wieder neu in die Gegenwart und auch in die Sprache der heutigen Zeit übersetzt werden. Doch selbst wenn es keine Erinnerung an die Zerstörung der Weimarer Demokratie mehr gäbe, wären doch Freiheit und Demokratie Werte, die auch aus sich heraus bestehen können. Selbst wenn es keine Erinnerung mehr gäbe an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen, bedürften doch Humanität und Menschenwürde keiner zusätzlichen Rechtfertigung.“
In Teilen der Gesellschaft besteht der Wunsch die kritische Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit zu beenden. Wie kann eine nachhaltige Erinnerungskultur aussehen, die die heutigen Generationen nicht mit der Schuld ihrer Vorfahren belastet?
„Die Schuld, die Verantwortung, die Belastung der Deutschen aus der NS-Zeit – und im übrigen auch die aus der Zeit der DDR – ist keine Bürde, von der man sich befreien kann – weder individuell noch kollektiv. Die nationalsozialistische Vergangenheit ist Teil der deutschen Geschichte. Daraus resultiert die Notwendigkeit kontinuierlicher wissenschaftlicher Erforschung ebenso wie öffentlicher Erinnerung, öffentlichen Gedenkens vor immer wieder neuen Horizonten: heute beispielsweise, spät, aber völlig zu Recht auch im Zusammenhang mit der deutschen, europäischen und westlichen kolonialen Vergangenheit. Von einer Belastung dadurch kann doch überhaupt keine Rede sein. Worin sollte diese Belastung denn bestehen? Was sind denn die Ziele derer, die unablässig fordern, Deutschland und die Deutschen müssten sich von der Last der Vergangenheit befreien, müssten endlich eine „normale Nation“ werden. Da soll doch nur die Geschichte oder die Negation der Geschichte bestimmten politischen Vorstellungen Vorschub leisten. Da soll – nationale – Geschichte entsorgt werden – ausgerechnet von denjenigen Kräften, die sich stets als besonders geschichtsbewusst präsentieren und inszenieren.“