Ein erstarkender Antisemitismus in Deutschland

12.09.2024

Ein erstarkender Antisemitismus in Deutschland

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Dr. Monika Schwarz-Friesel über den wachsenden Antisemitismus in Deutschland

Antisemitismus ist ein zentraler Prüfstein für die Gesundheit einer Demokratie. Wir haben mit Prof. Dr. Dr. Monika Schwarz-Friesel über den wachsenden Antisemitismus in Deutschland gesprochen. Im Interview erläutert sie die Unterschiede zwischen Antisemitismus, Antijudaismus und Antizionismus und zeigt auf, wie tief antisemitische Stereotype in unserer Kultur verwurzelt sind. Ihr eindringlicher Appell: Im Kampf gegen Antisemitismus tragen wir alle Verantwortung – durch Reflexion, Zivilcourage und ein klares Bekenntnis zu den Werten der Demokratie.

 

Was ist Antisemitismus und wie unterscheidet sich dieser von Antijudaismus und Antizionismus?

Antisemitismus ist die moderne Bezeichnung für Judenfeindschaft. Der Terminus kam erst im 19. Jahrhundert auf und wird seitdem benutzt, um v.a. auf aktuelle Dimensionen des Judenhasses zu referieren. Antisemitismus basiert jedoch weiterhin auf dem Antijudaismus, denn dort liegen seine Wurzeln und konzeptuellen Grundlagen. In den frühchristlichen Texten der Adversus-Judaeos-Schriftgelehrten liegt die Genese des antijüdischen Ressentiments. Dort wird die Differenzkonstruktion zwischen Juden und Nichtjuden etabliert und das Konzept, Juden seien ‚das Böse in der Welt‘ in die Welt geworfen. Es verfestigt sich auf dieser Grundlage im Laufe der Jahrhunderte ein manichäisches Glaubenssystem, in dem Juden stets die Rolle des Welten-Übels zugesprochen wird Antizionismus und Antiisraelismus führen diese Tradition trotz aller Aufklärungsarbeit nach der Schoah weiter. Sie basieren auf den gleichen uralten Stereotypen (Kindermörder, Landräuber, gierige Geldmenschen und Verschwörer), die allesamt Phantasmen sind, und benutzen die gleichen Argumente (zum Beispiel, dass Juden selbst schuld seien, wenn ihnen Gewalt zugefügt wird – das Argument der Jahrhunderte, das nach dem Pogrom des 7.10.23 sogleich in Bezug auf Israel re-aktiviert wurde).

Antisemitismus, dies muss immer wieder betont werden, ist kein Vorurteil unter vielen, ist nicht notwendigerweise an Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gekoppelt, sondern ist eine kollektive kulturelle Kategorie, eine habitualisierte Weise, zu denken und zu fühlen, ein 2000 Jahre altes Weltdeutungs- und Glaubenssystem. Bei aller Kontinuität ist Antisemitismus aber auch ein Chamäleon, das sich opportun den jeweiligen Epochen und Situationen anpasst und immer die Dimension jüdischen Lebens attackiert, die gerade besonders im Fokus der Gesellschaft oder des Weltgeschehens steht. Dies sieht man bei Antizionismus und Anti-Israelismus besonders deutlich: Israel, das wichtigste Symbol für jüdisches Leben und Überleben, steht im Fokus aller antisemitischen Aktivitäten, weil es der Stachel im Geist von Antisemiten ist.

 

Seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 erlebt Deutschland eine zunehmende Migration vor allem aus muslimisch geprägten Ländern. Immer wieder ist die Rede von einer migrationsbedingten Zunahme des Antisemitismus. Ist dieser vermeintliche Zusammenhang ausreichend erforscht und müssen wir uns als Land damit ernsthafter auseinandersetzen als bisher?

Dieser Zusammenhang bedarf noch ausführlicher Untersuchungen und Analysen, aber es ist ohne Zweifel problematisch, dass viele Migranten aus Ländern kommen, in denen Israelhass Staatsraison ist, in denen Judenfeindschaft normal und habituell ist.

Dass wir einen virulenten muslimischen beziehungsweise islamistischen Antisemitismus haben, ist ebenfalls unzweifelhaft und bereits in mehreren Studien erforscht worden. Es zeigt sich dabei, dass auch beim muslimischen Antisemitismus der klassische Antijudaismus den Hass speist. Korpusanalysen zeigen, wie die dämonisierenden Stereotype des Mittelalters auf Israel projiziert werden. Die religiöse Dimension spielt zudem eine größere Rolle als bei den anderen politisch-ideologischen Formen des aktuellen Antisemitismus. Im Netz zeigt sich dabei eine extreme Aggressivität. Diese Problematik sollte thematisiert werden, ohne dass Wissenschaftler in AFD-Nähe gerückt und als xenophob diskreditiert werden, wenn sie darauf hinweisen.

 

Insbesondere im Zuge der Anschläge der Hamas auf Israel und das darauffolgende militärische Vorgehen durch die israelische Regierung wurden antisemitische Äußerungen und Vorfälle auch im Rahmen der propalästinensischen Proteste in Deutschland vermehrt beobachtet. Hat der neu aufgeflammte Nahostkonflikt den Antisemitismus in unserem Land befeuert?

Ja, auf jeden Fall. Aber: Wir konstatieren diese Eruptionen in der Forschung schon seit Jahrzehnten. Jede mediale Berichterstattung über den Nahostkonflikt löst Fluten von antisemitischen Kommentaren im Internet und anti-israelische Demonstrationen auf den Straßen aus. Das war schon 2014 anlässlich der Gaza-Krise so, und damals lautete die Titel-Schlagzeile des Economist schon „Wie sicher sind Europas Juden“? Der Nahostkonflikt fungiert als Trigger, aber er ist nicht die Ursache des Judenhasses.

Israelbezogener Antisemitismus ist nichts Neues, er kursiert seit der Gründung des Staates, und er ist auch kein politischer Empörungs-Antisemitismus. Israelbezogener Judenhass, das zeigen unsere jahrelangen umfangreichen Korpus Studien überdeutlich, wird auch in Kommunikationsbereichen und Diskursen artikuliert, die nichts mit dem Nahostkonflikt zu tun haben, so zum Beispiel beim European Song Contest, in der Beschneidungsdebatte oder bei der Naturkatastrophe 2016, als große Teile der israelischen Wälder brannten. Auch da kam es zu Fluten von radikalen Hassbekundungen im Internet.

Nach dem Pogrom der Hamas jedoch ist der offizielle Damm, der zuvor schon erhebliche Risse aufwies, dann endgültig gebrochen: Auch für erfahrene Antisemitismus-Forscher kamen die kruden Täter-Opfer-Umkehrungen, die massive Empathie-Verweigerung, das Schweigen zu den Gräueltaten und die Kontextualisierungen (Israel habe dies provoziert) in diesem derartigen Ausmaß als bedrückende und beängstigende Schockerfahrungen.

 

Aufgrund unserer historischen Verantwortung fällt es Deutschland und seinen Bürger:innen schwer sich angemessen in diesem Konflikt zu positionieren. Wird die Kritik an Israel und der israelischen Regierung zu leicht als Antisemitismus verstanden?

Nein, keineswegs. Diese Behauptung ist ein Schutz-Argument, das zwar viel im öffentlichen Diskurs vorgebracht wird, am Ende aber nur ein Phantasma ist (das übrigens auch schon im 19. Jahrhundert in Bezug auf Juden und Judentum vorgebracht wurde, z.B. von Wilhelm Marr, Verfasser der einflussreichsten antisemitischen Hetzschrift seiner Zeit). Israel wird auch in Deutschland scharf und oft kritisiert, oft sogar überkritisch.

Eine Zurückhaltung vermag ich als Antisemitismus-Forscherin und Wissenschaftlerin in keiner Weise zu sehen. Im Gegenteil: Der ausufernde Feuilleton-Antisemitismus der letzten Jahre bereitet große Sorgen. Immer offener und selbstverständlicher werden auch in Mainstream-Diskursen und akademischen Kommunikationsräumen israelfeindliche Positionen vertreten, die einseitige De-Realisierungen und Dämonisierungen aufweisen, auf alten Stereotypen und Verschwörungsphantasien basieren und so antisemitisches Gedanken- und Gefühlsgut in der Gesellschaft reaktivieren und intensivieren. Es gibt auch klare Abgrenzungen in der Forschung zwischen legitimer Kritik an z.B. Aktivitäten der israelischen Regierung und Antisemitismus. Da gibt es überhaupt keine Grauzone!

Das Phantasma vom angeblichen Kritiktabu aufgrund der historischen Vergangenheit Deutschlands sollte man daher ein für alle Mal als das bezeichnen, was es ist: ein Hollow-Man-Argument zur Abwehr und Legitimierung antisemitischer Äußerungen.

 

Vermehrte antisemitische Anfeindungen sind vor allem in rechtsextremen Kontexten wahrzunehmen. Dies geht mit dem erstarkenden Rechtsextremismus in Deutschland einher. Knüpfen rechtsradikale Gruppen an die Ideologie des Nationalsozialismus an oder haben sich die antisemitischen Feindbilder verändert?

Antisemitische Anfeindungen sind in allen politischen Kontexten wahrzunehmen, keineswegs nur in rechtsextremen. Der erstarkende Rechtsextremismus bereitet natürlich große Sorge, und die Wahlerfolge der rechtsextremistischen AFD in Thüringen und Sachsen sind für jeden Demokraten erschreckend und erschütternd. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass judenfeindliche Gedanken und Gefühle in der gesamten Gesellschaft anzutreffen sind. Zudem bilden sich schon seit Jahren, und vermehrt seit dem Pogrom des 7. Oktober 2023, Allianzen zwischen an sich völlig unterschiedlichen politischen Lagern. Besonders auffällig findet dies zwischen linksextremen und islamistischen Gruppen statt.

Aktuell gibt es 4 Gesichter des Antisemitismus: Rechts, links, muslimisch-islamistisch und mittig. Antisemiten aller Couleur treffen sich trotz ihrer großen ideologischen Differenzen in einem Punkt: im Hass gegen Israel.

Die Ideologie des Nationalsozialismus mit ihrer eliminatorischen Ausrichtung und Erlösungsphantasie findet sich dabei in den Auslöschungsphantasien wieder, die je nach politischer Richtung oder Ideologie als „Kill Israel“, „bombt Israel“ oder „Löst den Zionistenstaat zum Wohle der Menschheit auf“ im Netz millionenfach gepostet werden. Wir hören und lesen sie aber auch in den kruden Sprüchen der anti-israelischen Demonstrationen des Campus-Antisemitismus.

Antisemitismus gilt als Alarmsystem für jede Demokratie: Er ist der „Kanarienvogel im Tunnelschacht“, wenn die Luft dünn wird, fällt der Vogel um. Danach dann aber auch alle anderen… Der sich ausbreitende und in weiten Teilen normalisierende Antisemitismus sollte allen verantwortungsbewussten Kräfte in der Demokratie eine Warnung sein.

 

Ein wichtiger Faktor im Kampf gegen Antisemitismus ist die Einstellung der breiteren Öffentlichkeit. Sind antisemitische Tendenzen in der breiten Bevölkerung erkennbar oder ist dieser auf radikalisierte Teile der Gesellschaft begrenzt?

Die gebildete Mitte war immer, dies zeigt die Geschichte deutlich, die Quelle antisemitischen Gedankenguts. Von den Schriftgelehrten (Augustinus, Luther, Voltaire, Hegel, Fontane, um nur einige wenige zu nennen, die judenfeindliche Argumente verbreiteten…) kamen die judenfeindlichen Konzeptualisierungen, die dann von den Rändern aufgegriffen wurden. Die Schreibtischtäter affizieren stets die radikalen Ränder, nicht umgekehrt! Sie sind die geistigen Brandstifter (s. z.B. die kognitiven Verdrehungen radikaler Post-Kolonial-Studien), sie liefern die geistigen Fabrikationen, die dann in den Seminaren verbreitet und auf dem Campus gegrölt werden.

Wir erleben seit einigen Jahren wieder vermehrt, wie besonders angetrieben durch den links-woken Feuilleton-Antisemitismus mit seinem anti-israelischen Narrativ, judenfeindliche Slogans in Bezug auf den jüdischen Staat geradezu en vogue geworden sind. Es gehört in vielen akademischen und künstlerischen Kreisen zum guten Ton, sich anti-israelisch zu positionieren, in dem Irr-Glauben, zu „den Guten“ zu gehören. Das war in der langen Geschichte der Judenfeindschaft immer so: diese Hybris gegenüber Juden mit dem Anspruch, moralisch integrer und besser zu sein.

 

Ist Deutschland ein Ausnahmefall? Ist auch in anderen demokratischen Ländern ein Anstieg antisemitischer Stimmungen zu beobachten?

Deutschland ist kein Ausnahmefall. In vielen demokratischen Ländern steigt die Zahl antisemitischer Delikte rapide an, es gab weltweit geradezu eine Explosion nach dem Massaker vom 7.10.23. In Wien fand deshalb vor wenigen Tagen eine internationale Parlamentarier-Konferenz statt, die sich mit dem Thema Antisemitismus und Jüdisches Leben in Europa beschäftigt.

Machen wir uns dabei klar: Wer heute öffentlich den jüdischen Staat als Apartheidsstaat oder Kindermörder-Regime diffamiert, der produziert genauso realitätsverzerrenden Antisemitismus wie die, die behaupten, Juden schlachteten Kinder für rituelle Zwecke.

 

Jüdisches Leben steht in Deutschland zuletzt immer stärker unter Druck. Wie können wir als Staat und als Bürger:innen erreichen, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher leben können und jüdische Einrichtungen, wie Synagogen, nicht mehr geschützt werden müssen?

Indem man nicht nur blumige Sonntagsreden hält, sondern tatsächlich das „Nie wieder“ und „Wehret den Anfängen“ (über die wir bereits längst hinweg sind) auch vor-lebt. Null Toleranz für die Intoleranz, forderte Karl Popper. Das muss auch für die Symbiose Juden- und Israelhass gelten. Nur auf Aufklärung zu setzen: Das ist beschämend gescheitert. Wir benötigen zusätzlich Formen der Repression gegen Judenhass, wenn wir diesen wirklich eindämmen wollen. Politik und Zivilgesellschaft müssen also auch ernsthaft etwas tun. So sollten etwa Hassparolen und Einschüchterungen von jüdischen Studierenden an und vor deutschen Universitäten sofort unterbunden und sanktioniert werden.

Im 21. Jahrhundert mutet man Jüdinnen und Juden sehr viel – nein, zu viel – zu. Ihre Ängste werden klein geredet, ihr Trauma heruntergespielt, ihre kollektive Trauer- und Leiderfahrung durch krude Vergleiche verhöhnt, die Shoa gar post-kolonial usurpiert und damit trivialisiert. Stets begleitet von der Beteuerung, mit Antisemitismus habe all dies selbstverständlich nichts zu tun. Man hat also zu wenig oder gar nichts aus der Vergangenheit gelernt.

Der aktuelle Antisemitismus lebt und nährt sich nicht nur vom antisemitisch Ausgesprochenen, sondern auch vom Dulden, Wegschauen und vom Leichtnehmen – und auch vom Umdeuten als „Meinungs- oder Kunstfreiheit“.

Konkret: Ganz gleich, in welcher Form und von wem auch immer artikuliert (auch wenn es von einem Staatspräsidenten oder einer renommierten Schriftstellerin kommt), müssen judenfeindliche Äußerungen ohne Ansehen der Person zurückgewiesen werden. Und zwar auch dann, wenn es unbequem für die eigene Realpolitik ist oder es zu konfliktären Auseinandersetzungen in Freundes- und Bekanntenkreis kommen könnte.

Der aktuelle Antisemitismus lebt und nährt sich nicht nur vom antisemitisch Ausgesprochenen, sondern auch vom Dulden, Wegschauen und vom Leichtnehmen – und auch vom Umdeuten als „Meinungs- oder Kunstfreiheit“.

Prof. Dr. Dr. Monika Schwarz-Friesel

 

 

Prof. Dr. Dr. Monika Schwarz-Friesel ist Antisemitismusforscherin und Kognitionswissenschaftlerin an der TU Berlin. Buchpublikationen: u.a. Aktueller Antisemitismus, Gebildeter Antisemitismus, Judenhass im Internet, Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Toxische Sprache und geistige Gewalt. Sie ist u.a. im wissenschaftlichen Beirat von „Antisemitism Studies“ (USA) und des “Journal of Contemporary Antisemitism“ (UK).

Ziel der aktuellen Kampagne Quo vadis, Demokratie?, in deren Rahmen das Interview erscheint, ist es, dem wissenschaftlichen Diskurs und Austausch eine Plattform zu bieten. Dazu schaffen wir Raum für die kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen zur Zukunft unserer Demokratie. Neben aufschlussreichen Interviews und Diskussionen stellen wir auch aktuelle wissenschaftliche Beiträge frei zur Verfügung.