Ein Gespräch mit Dr. Jan Kerkmann und Dr. David Manolo Sailer zum ersten Band des Politischen Realismus
Politische Diskussionen und Krisen prägen die Gegenwart rund um die Welt. Interpretationsansätze und Deutungskategorien politischer Ordnung erleichtern und bieten Erklärungen für das Verständnis von Macht und Herrschaft in modernen politischen Ordnungen. Das ist das Thema der Reihe Politisches Denken in Europa, in der soeben der Band Politischer Realismus I erschienen ist. Unser Verlag hat zwei der Herausgeber des Sammelbandes – Dr. Jan Kerkmann und Dr. David Manolo Sailer – zur Rolle des politischen Realismus befragt:
Was macht den politischen Realismus als Paradigma so bedeutsam für das Verständnis von Macht und Herrschaft in modernen politischen Ordnungen, und wie hebt sich Ihr Ansatz von anderen politischen Denkströmungen ab?
„Unser erster Band zum Politischen Realismus widmet sich einem ideengeschichtlichen Schlüsselphänomen der politischen Philosophie. PR1 untersucht die Genese von Herrschaft und Souveränität aus historisch und anthropologisch aufleuchtenden Machtdynamiken. Wir hinterfragen dabei zentrale Deutungskategorien politischer Ordnung – und prüfen, was wir daraus für die Krisen der Gegenwart lernen können.
Gegenwärtig wird nur zu gerne vergessen, dass Machtpolitik kein Phänomen der Moderne ist. Von den Reden in Thukydides’ Peloponnesischem Krieg über Machiavellis Principe und Clausewitz‘ realistischen Theorien des Krieges bis hin zum modernen deskriptiven Dezisionismus führt der Band bedeutende Denker der europäischen Geistesgeschichte unter der Signatur des politischen Realismus zusammen. Damit wird eine spannende Perspektive eröffnet: In den Vordergrund der Analyse rücken eine pragmatische Machtpolitik und das Streben nach Stabilität, nicht aber die Aufstellung utopischer Ideale.“
Ihr Sammelband stellt sich gegen die Grundannahme überzeitlich gültiger Prinzipien und fokussiert stattdessen auf historisch und anthropologisch geprägte Machtdynamiken. Welche neuen Perspektiven eröffnen sich durch diese Herangehensweise für die politische Theorie?
„Der politische Realismus wendet sich gegen eine normative Staatskonzeption, die auf ewigen Ideen wie denjenigen der Gerechtigkeit oder des Guten beruht. Dennoch – und dies kann als ein gemeinsames Resultat der facettenreichen Beiträge von Politischer Realismus I akzentuiert werden – schließt dieser metaphysikkritische Zug eine Suche nach zeitüberdauernden Gesetzmäßigkeiten und nach unveränderbaren Eigenschaften des Menschen nicht aus. Entscheidend für die Herangehensweise des politischen Realismus ist aber, dass ebendiese Gesetzmäßigkeiten nicht durch metaphysische Spekulation oder apriorische Grundaussagen über die Natur des Menschen gewonnen werden, sondern anhand der Betrachtung konkreter geschichtlicher Ereignisse profiliert werden. Indem der politische Realismus die Steigerung von Macht als hauptsächlichen Beweggrund des menschlichen Strebens hypostasiert, droht er sich die Möglichkeit einer kritischen Bezugnahme auf gesellschaftliche Vorgänge allerdings zu entziehen.“
Das Paradigma des politischen Realismus hat im Sammelband eine klare Abgrenzung zu klassischen und modernen politischen Philosophien erfahren. Welche aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen haben Sie und die anderen Autor:innen inspiriert, den politischen Realismus gerade jetzt neu zu beleuchten?
„Die Welt befindet sich am Scheideweg. Geopolitische Erschütterungen treffen auf krisengebeutelte Gesellschaften. Und wir alle spüren diese wachsende Orientierungslosigkeit. In Europa – aber auch in Demokratien weltweit – geraten die humanistischen Werte zunehmend in den Klammergriff autoritärer Strukturen. Unsere Buchreihe Politisches Denken in Europa will Halt geben.
Dafür beleuchten wir die Entwicklung des politischen Denkens von der Antike bis zur Moderne und verbinden das Wissen aller Zeiten – die historische Reflexion – mit den drängenden Herausforderungen der Gegenwart. An den interdisziplinären Schnittstellen von Politischer Theorie, Philosophie und Geschichte angesiedelt, untersuchen wir – Ethik und Realpolitik gleichermaßen berücksichtigend – Dynamiken von Macht, Staat und Ordnung. Dabei zeichnen die Bände der Reihe politische Schlüsselbegriffe nach – und fragen, was wir aus den philosophischen Denkmodellen der Vergangenheit für das 21. Jahrhunderts lernen können.“