NOESIS – ‚Die Demokratie von innen heraus nähren‘ – Levinas neu gelesen

29.04.2025

NOESIS
‚Die Demokratie von innen heraus nähren‘ – Levinas neu gelesen

Im Gespräch mit Prof. Corine Pelluchon

Vor 30 Jahren ist Emmanuel Levinas, einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, gestorben. Welchen Einfluss hat sein Werk auf Sie persönlich und vor allem auf Ihr wissenschaftliches Schaffen ausgeübt?

Emmanuel Levinas schlägt eine Phänomenologie der Nicht-Konstitution vor, das heißt, er interessiert sich für Phänomene, die sich einer subjektiven Kontrolle und Intentionalität entziehen. Zum Beispiel Schmerzen, Leiden, aber auch die Begegnung mit anderen sowie Ernährung oder so etwas wie Vergnügen. Ich schließe mich diesem Erbe an, das es ermöglicht, die Vorstellung der conditio humana zu erneuern, indem es einerseits die Körperlichkeit des Subjekts, seine Verletzlichkeit und Passivität, betont und andererseits der Materialität unserer Existenz, die darauf verweist, dass wir Wasser und Nahrung brauchen, Raum gibt. Als ich Anfang der 2000er Jahre zunächst in der Medizinethik arbeitete, machte ich mir diese Reflexion von Levinas über die Verletzlichkeit zu eigen, die eine Eigenschaft der Zerbrechlichkeit aber auch Stärke ist. Indem ich also den Zusammenhang zwischen der Veränderung des Körpers und der Unvollständigkeit der Psyche sowie unserer Verantwortung, verstanden als die Fähigkeit, sich für den anderen zu interessieren (und offen für den anderen zu sein), betonte, konnte ich eine Ethik der Verletzlichkeit entwickeln, deren Horizont über das Sorgen und Pflegen hinausgeht. Es handelt sich um eine Subjektphilosophie, die sich von derjenigen unterscheidet, auf der die modernen und zeitgenössischen sozialen und politischen Theorien beruhen. Die Auffassung vom Menschen, die den politischen Theorien zugrunde liegt, wird nicht mehr allein durch Freiheit und Willen bestimmt, sondern von dem Kriterium der Passivität her gedacht. Außerdem wird unsere Freiheit durch unsere Verantwortung definiert. Der von Levinas verteidigte Vorrang der Verantwortung vor der Freiheit hat Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir über die Menschenrechte und die Sozialität denken, die nicht mehr durch Interessensausgleiche oder den Austausch von Gründen und guten Praktiken strukturiert ist. Ich habe die politischen Konsequenzen aus diesem von Levinas herbeigeführten Wandel des Denkens gezogen. Schließlich habe ich in Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt (WBG, 2020), das 2015 in Frankreich erschienen ist, eine Philosophie des “Lebens von” vorgeschlagen, indem ich sowohl mit als auch gegen Levinas gezeigt habe, dass Leben immer bedeutet, von materiellen und kulturellen Dingen zu leben, die nicht nur meine Bedürfnisse befriedigen, sondern auch mein Leben nähren, um mit anderen zu leben. Sobald ich irgendwo esse und wohne, habe übe ich Einfluss auf andere Wesen aus, einschließlich der Tiere und zukünftigen Generationen.

Während Levinas keine Philosophie der Ökologie entwickelt hat und Tiere außerhalb der Ethik stellte, habe ich gezeigt, dass die Philosophie der Ernährung eine Philosophie unseres Wohnens auf die Erde, das immer ein Zusammenleben mit anderen darstellt, ist, und dass jede Berufung auf diese Phänomenologie eine ökologische Philosophie ist. Mehr noch, ich habe gezeigt, dass die Existenz anderer Lebewesen uns verpflichtet, dass auch die Tiere durch ihre Existenz einen Appell an uns richten und dass die Gewalt, die wir ihnen zufügen, viel über uns Menschen aussagt, insofern durch sie die Züge unseres menschlichen Antlitzes zum Verschwinden bringt. Ich habe die normativen Konsequenzen solcher Phänomenologie der Körperlichkeit und der Ernährung gezogen, die zu einem neuen Gesellschaftsvertrag führt, in dem die Ziele der Politik nicht mehr auf die Sicherung des sozialen Friedens zwischen den Menschen oder die Verringerung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit beschränkt sind, sondern sich auch auf den Schutz der Biosphäre und ihrer Schönheit (denn wenn man von Lebensmitteln spricht, vermeidet man es, von Ressourcen zu sprechen und verändert damit die Art und Weise der Betrachtung und Bewertung dessen, wovon wir leben), die Berücksichtigung der Geselligkeit und Gerechtigkeit gegenüber Tieren und gegenüber den zukünftigen Generationen erstreckt und damit zu Pflichten des Staates werden.

Kurz, ich verdanke Levinas viel und habe ihn so oft gelesen, bin so oft gedanklich mit ihm gegangen, dass er mich verändert, mich inspiriert hat. Aber ich distanziere mich auch von ihm in einigen Punkten und hebe immer wieder die Spannungen hervor, die in seinem Werk vorhanden sind. Dieses Buch zeugt von dem moralischen Abenteuer, das die Interpretation eines Autors ist, den man liebt. Es ist eine Auseinandersetzung, in der ich präzisiere, was ich ihm verdanke, was ich in seinem Werk fortsetze (denn Levinas geht letztendlich nicht immer um das, was er vorschlägt, zum Beispiel in Bezug auf die Ernährung, die in einigen Passagen von Totalité et Infini und in Vorträgen thematisiert wird, aber zum Beispiel in Autrement qu’être nicht mehr zu finden ist). Ich sage auch, in welchem Sinne ich mit ihm breche. Ich betrachte Levinas als einen meiner größten Inspirationsfiguren, und das Lesen seiner Bücher hat mich jedes Mal, wenn ich mich wieder darin vertiefe, erschüttert.

 

Levinas Philosophie der „Andersheit des Anderen“ wird heute oft verschiedentlich interpretiert und auch nicht selten missverstanden. Was können wir aus seiner Ethik, die ja eine prima philosophia sein will, heute lernen?

Es gibt in der Tat viele Missverständnisse hinsichtlich der Philosophie von Levinas. Man irrt sich völlig, wenn man die Verantwortung für den anderen als eine freundliche Haltung, als eine Art natürlicher Güte interpretiert. Wenn Levinas das Tötungsverbot aus dem Antlitz des Anderen auftauchen lässt, indem er betont, dass ich nicht um den Anderen herumgehen kann und dass seine Anwesenheit mich verärgert, meiner Macht ihn zu kennen, zu konstituieren, zu beherrschen Grenzen setzt, betont er gleichzeitig, dass Mord eine Versuchung darstellt. Levinas vernachlässigt die Ambivalenz unsere Beziehungen zu dem Anderen nicht. Die Transzendenz des Anderen, die Tatsache, dass er mir entgeht, bedeutet, dass der Mord sozusagen unmöglich ist, da ich nicht bewirken kann, dass ein Anderer existiert, aber es ist auch eine Versuchung. Der Mord, der sich an das Antlitz richtet, und jede Gewalt, die darauf abzielt, es zum Schweigen zu bringen, drücken den Willen aus, den Anderen als solchen zu vernichten, ihn so zu machen, als hätte er nie existiert, was sowohl unmöglich ist als auch verlockend bleibt.

Die Beziehung zu anderen, die meinen Solipsismus durchkreuz, die Gegenwart des Anderen, seine Existenz, sein Hunger, sein Durst und seine Freiheit, die meinem guten Recht, meinem Recht, alles zu tun, Grenzen setzen, berauben mich meiner Souveränität. Verantwortung ist nicht moralisierend und psychologisch zu interpretieren, sondern sie ist eine andere Art, das Subjekt zu benennen; sie kehrt es um. Aber die wichtigsten Widersprüche betreffen den Begriff der Stellvertretung, der die Verantwortung für die Verantwortung des anderen bezeichnet, die Tatsache, dass das, was er getan hat, auch wenn es furchtbar war, auf mir lastet, mich bewegt und dazu führt, dass ich nicht in eine Art Unschuld zurückkehren kann. Diese Kategorie, die mit Schuld verwechselt wird, zeugt von der Umkehrung der Subjektivität, die Levinas vornimmt. In diesem Buch erkläre ich, wie es möglich ist, diese Umkehrung zu interpretieren, warum man beispielsweise mit der Levinas’schen Ethik in der Medizinethik etwas machen und auch nicht machen kann und warum man nicht leichtfertig davon sprechen kann, Geisel des anderen zu sein. Ich zeige, warum dieser Begriff der Stellvertretung mit der Geschichte und dem Bösen zu tun hat und wie ich ihn verstanden habe, welche Erfahrung es mir ermöglicht hat, ihn besser zu verstehen.

Die Ethik bei Levinas ist weder mit der Moral, mit Konventionen, die das Gute und Böse mit Inhalt füllen, noch mit der Gesamtheit der Seinsweisen, die man erwerben muss, um sich um andere zu kümmern, zu verwechseln. Ich unterscheide in dem Buch auch zwischen der Ethik von Levinas und der Care-Ethik, die Ähnlichkeiten mit der Phänomenologie von Levinas aufweist, da sie die Überwindung einer engen Auffassung von Autonomie impliziert, die Beziehungsdimension des Subjekts betont und auf Verantwortung besteht. Aber diese Analogien dürfen die wesentlichen Unterschiede, die sich aus Levinas‘ Methode und seinem phänomenologischen Ansatz ergeben, nicht verwischen. Vielmehr beschäftigt Levinas sich weniger mit der Ethik als mit den Bedingungen der Ethik: dem Ethischen. Er hat das Thema Ethik und die Art und Weise, wie man darüber nachdenkt, völlig verändert.

Man kann Levinas nicht verstehen, ohne die Tragweite dieses Umsturzes des Denkens, den er bewirkt hat, wirklich zu ermessen. Es ist wichtig, Anhaltspunkte zu haben, um ihn lesen zu können, zumal er seine Quellen (Husserl, Heidegger, die Bibel usw.) nicht oft zitiert. Aber man verpasst das Wesentliche, wenn man sich damit begnügt, eine Zusammenfassung, auch wenn sie sehr gut gemacht ist, zu lesen. Aus diesem Grund habe ich diesen Text veröffentlicht, der am Anfang ein Seminar war, das sich auch an Pflegepersonal und einige Philosophiestudenten richtet, die Levinas nicht immer verstehen, obwohl sie spüren, dass er wesentliche Dinge sagt. Ich wollte sowohl den Studierenden als auch dem Pflegepersonal einen Schlüssel in die Hand geben, damit sie sich in diesem schwierigen Werk zurechtfinden, ohne es zu karikieren. Sie sollen den Reichtum dieses Werkes erkennen, damit jeder Begriff und jedes Wort, jede Formel von Levinas in ihnen nachhallt. Denn Levinas schreibt nicht wie die meisten anderen Philosophen. Er hat einen einzigartigen Stil, sein Denken ist von Erlebtem wie auch von vielfältigen Einflüssen durchzogen, und genau das soll man beim Lesen spüren, ohne den Text zu überinterpretieren. Denn wenn man Levinas liest und interpretiert, entdeckt man auch sich selbst und sieht, wie dieser zugleich einzigartige und universelle Gedanke in einem widerhallt.

 

Levinas steht ohne Zweifel in der Tradition jüdischen Denkens. Heute beobachten wir in Deutschland wieder vermehrt antisemitische Angriffe. Wie kann eine Lektüre von Levinas helfen, Vorurteile und Ressentiments gegenüber Jüdinnen und Juden abzubauen?  

Den anderen Menschen als Antlitz zu betrachten, in seiner Einzigartigkeit, als ein Wesen, das ich nicht zusammenfassen und um das ich nicht herumkommen kann, das sich allem entzieht, was ich von ihm sehe und weiß, und das über seine Manifestation, seine Erscheinung, seine Phänomenalität hinausgeht (deshalb spricht Levinas von Epiphanie), das bedeutet, die Erfahrung der Begegnung mit anderen zu machen. Es geht darum, all das Außergewöhnliche dieser Erfahrung hervorzuheben, auch wenn man meistens nicht auf den anderen achtet, weil er uns gleichgültig ist oder weil wir versucht sind, ihn zu reifizieren oder uns seiner zu bedienen, ihn auf seine Funktion zu reduzieren. Den Anderen nicht als ein Exemplar der Menschheit zu betrachten, sondern als ein Wesen, dessen Transzendenz ich anerkenne, ist mehr als nur Respekt haben vor seiner Person. Denn dieser Blick individualisiert den anderen und verwandelt mich. Auch deshalb drückt das Antlitz das Unendliche aus. Wie das Unendliche bei Descartes liegt es jenseits meiner Fähigkeit und kann in keinem Konzept enthalten sein. Es ist auch das Erste und verwandelt mich, indem es mich auf das Unendliche meiner Verantwortung verweist. Man kann sagen, dass diese Konzepte in einer Tradition verwurzelt sind, der jüdischen Tradition, wenn man an religiöse Texte denkt, aber auch an Rosenzweig (Die Stern der Erlösung), aber sie haben auch eine Tiefe, ja sogar eine Universalität. Wenn man jemanden liebt, liebt man seine Einzigartigkeit, seine Andersartigkeit. Wenn man ihn wegen seines sozialen Status oder seines Geldes liebt, dann liebt man ihn nicht.

Nun, jeden anderen als Antlitz zu sehen, als ein einzigartiges Wesen, das mich jedoch stört, weil ich es nicht umgehen oder beherrschen kann und dessen Existenz mich zwingt, mich in Frage zu stellen, ist tatsächlich das Gegenteil von Objektivierung und Gewalt, die ihren Höhepunkt in Mord und Völkermord findet, die den Willen darstellen, den anderen als solchen zu leugnen, die dem Hass eines Mörders und nicht dem Hass eines Diebes entspringen und der Versuch sind, den Anderen zu vernichten und die Beziehung zu leugnen. Gleichzeitig hat man gesehen, dass ich, weil der Andere mich meiner Macht beraubt, auch den Wunsch habe, ihn zum Schweigen zu bringen. Und je mehr er anders ist, desto mehr kann ich versucht sein, ihn zum Schweigen bringen zu wollen, ihn zu objektivieren. Ich kann sogar versucht sein, meine Aggressivität gegen Wesen auszulassen, die anders sind als ich, die ich verändere, die ich als Fremde betrachte und die ich nicht ertrage, weil sie einen Teil von mir verkörpern, den ich verachte oder der mich anwidert (den Körper), oder mir das Bild einer Verletzlichkeit und sozialen Deklassierung vermitteln, die ich fürchte.

Jeder Rassismus beruht auf der Angst vor dem Anderssein, aber ich lehne den Anderen nicht nur ab, weil er anders oder fremd ist. Im Rassismus und Antisemitismus lehne ich ihn ab, weil er mich stört, ich verändere ihn und werde ihn angreifen, weil er einen Teil von mir verkörpert, vor dem ich Angst habe, und indem ich ihn demütige oder ihm gegenüber gewalttätig bin, fühle ich mich sicher bzw., beruhigt; ich vergesse für einen Moment, dass auch ich dieses verletzliche, dem Tod ausgesetzte Wesen bin, das entwürdigt werden kann. Rassismus und Antisemitismus werden in Zeiten gefördert, in denen Menschen, die sich verloren fühlen, ein soziales Unbehagen empfinden, das von Propheten der Lüge ausgenutzt wird, die, wie Leo Löwenthal und Norbert Guterman sagten, eine „umgekehrte Psychoanalyse“ betreiben, indem sie die Aufmerksamkeit der Bürger von der Suche nach den objektiven Ursachen der Probleme auf die Benennung von Schuldigen lenken, die für alle Übel verantwortlich gemacht werden. Indem sie ein Wild jagen, lindern die Menschen ihr Unbehagen, und indem sie sich vorstellen, dass sie anderen überlegen sind, besänftigen sie ihre narzisstische Schwäche, verwandeln ihr Gefühl der Ohnmacht in Allmacht und verkleiden ihre Angst vor dem Abstieg in Nationalstolz. In meinem im März 2025 in Frankreich erschienenen Buch (La démocratie sans emprise ou la puissance du féminin, Rivages; deutsche Übersetzung kommt 2026 bei Beck), das sich an die breite Öffentlichkeit richtet und die unbewussten Kräfte hervorheben soll, die die Zustimmung eines Teils der Bevölkerung zu neofaschistischen Diskursen erklären, habe ich die Ressourcen der Psychoanalyse und des Freudomarxismus genutzt, um die Explosion eines hemmungslosen Rassismus in ganz Europa zu verstehen. Rassismus ist immer Ausdruck einer narzisstischen Wunde, die nicht verarbeitet, nicht überwunden wurde. Wie Erich Fromm zeigte, muss man den Narzissmus überwinden, um fähig zu sein, den Anderen zu lieben und in einer Demokratie zu leben. Levinas verwendet weder diese Werkzeuge der Psychoanalyse noch die soziologischen Analysen, die zur Erklärung dieser Phänomene notwendig sind.  Aber sein Begriff der Transzendenz des Anderen und was er in den 1930er Jahren über den Hitlerismus schreibt, bevor er der große Philosoph wurde, den wir kennen, und dann die Art und Weise, wie er Freiheit in Verantwortung verankert, sind Ressourcen, um, sobald eine Diagnose gestellt wurde, eine resiliente Demokratie aufzubauen, in der die Menschen den Wunsch haben, gut zusammenzuleben. Denn ohne dieses Gefühl der Andersartigkeit und den Wunsch des Zusammenlebens, gibt es keine Beziehung, keinen Dialog, sondern nur Herrschaft, Manipulation und Wahn, der sich von Ressentiments und Hass nährt und Gewalt erzeugt.

 

War Levinas eigentlich auch ein politischer Denker? Wenn ja, inwiefern?

Levinas betont die nachgeordnete Relevanz des Politischen, und das ist oft das, was man von ihm in Erinnerung hat. Tatsächlich setzt Politik voraus, dass die Bedingungen angeglichen werden, während Ethik impliziert, die Einzigartigkeit jedes Einzelnen zu berücksichtigen. Doch wenn man Menschen vergleicht, Gesetze erlässt oder Patienten Protokollen unterwirft, läuft man Gefahr, ihr Gesicht nicht mehr zu sehen, sie wie Nummern zu behandeln und zu vergessen, dass Gerechtigkeit nicht nur die Anwendung von Prinzipien ist und dass Ärzte es nicht mit Krankheiten, sondern mit Kranken zu tun haben. Deshalb ist die Politik zweitrangig: Sie gehorcht der Notwendigkeit, dass meine individuelle und personalisierte Antwort auf den anderen, dessen Transzendenz und Andersartigkeit ich respektiere, keine Ungerechtigkeit gegenüber anderen darstellt. Außerdem sehe ich den Anderen in den Gesichtern der anderen, und das Ich steht vor einem Wir, wie der Begriff ‚der Dritte‘ zeigt. Gerechtigkeit ist notwendig, Politik auch, aber sie müssen überwacht werden, damit das Antlitz nie vergessen wird. Das ist die Rolle der Ethik.

Bei Levinas gibt es auch, insbesondere in Totalité et Infini, eine Angst vor der Versuchung politischer Strukturen, Individuen zu zermalmen und totalitär zu werden. Der Totalitarismus sieht die Menschheit als einen einzigen Menschen, sagte H. Arendt. Levinas hat die gleiche Angst vor autoritären und totalitären Auswüchsen der Politik. Aber das zu sagen, reicht nicht aus, um die Fülle des politischen Denkens von Levinas zu verstehen. Man muss sich auch daran erinnern, dass es zu der Auffassung führt, dass die Sozialität nicht nur oder nicht wesentlich durch das Geben und Nehmen definiert wird, wenn man das Antlitz zum Ausgangspunkt der Ethik und der Politik macht und auf der Priorität der Verantwortung gegenüber der Freiheit besteht. Sie ist nicht das einfache Spiel rivalisierender und gleichgültiger Freiheiten, wie im politischen Liberalismus, der in einer Situation der Knappheit, wie bei ökologischen Krisen, den Krieg aller gegen alle nicht verhindern kann.

Schließlich, und damit hätte ich beginnen können, ist Levinas‘ Denken untrennbar mit seiner Erfahrung des Aufstiegs des Nationalsozialismus und seiner Machtergreifung verbunden. Er ahnte diese Bedrohung und ich beziehe mich auf die Texte aus den dreißiger Jahren, in denen er über die Philosophie des Hitlerismus spricht, über eine Auffassung, in der der Mensch an seine biologischen Zugehörigkeiten gebunden ist, aber auch über Heidegger, der den Biologismus der Nazis nicht teilte aber dem Nationalsozialismus zuneigte. Levinas, der als französischer Soldat fünf Jahre in einem Stalag in Deutschland verbrachte (die französische Staatsbürgerschaft rettete dem in Litauen geborenen jungen Philosophen das Leben), während seine Eltern und seine beiden Brüder von den Nazis in Litauen ermordet wurden, sprach von den Jahren des Nationalsozialismus als einer Zeit, in der wir glaubten, mit der Gerechtigkeit zu sterben, in der alles falsch war, wo die Würde des Menschen in der windumtosten Hütte des Gewissens Zuflucht gefunden hatte. In einem Text mit dem Titel Namenlos, in dem er gebeten wird, zu sagen, was an die nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Generationen weitergegeben werden kann, spricht er von diesen Jahren als einem « Tumor im Gedächtnis », liefert aber eine bemerkenswerte Botschaft darüber, was wichtig ist, um Zeugnis abzulegen, darüber, was man in Zeiten von Katastrophen tun kann, um inmitten des Chaos zu bezeugen, was es bedeutet, in Würde zu leben. Dieser sehr zugängliche Text, den ich als sein Testament betrachte, bietet eine sehr schöne Lektion in Sachen Mut ohne Arroganz und Menschlichkeit. Er spricht hier von dem, was er die Ehre ohne Flagge nennt.

Allgemein gesagt und abgesehen von der unauslöschlichen Prägung dieses Traumas gibt es bei Levinas den Versuch, die Philosophie des Subjekts, die als Grundlage für den politischen Liberalismus und die Menschenrechte dient, zu vervollständigen und zu bereichern. Es ist wichtig, eine Phänomenologie der Menschenrechte zu praktizieren, um unseren Blick weg von jenen als Worthülsen gebrauchten Begriffen wie « Freiheit », « Gleichheit », « Brüderlichkeit » und hin zu einer Bedeutung zu lenken, die diesen Worten eine neue Tiefe verleiht. Denn diese Begriffe wie auch die demokratischen Institutionen wurden ihres Sinns entleert ; wir spüren nicht mehr den Reichtum und die Anforderungen, die sie definieren, die Tatsache, dass das Leben in einer Demokratie auf einer Wette und einer Anforderung beruht, die nicht selbstverständlich sind. Und vor allem darf man nicht glauben, dass Sozialität nur das Spiel rivalisierender und gleichgültiger Freiheiten ist. Dieser Liberalismus wird kein Gegengewicht zur Entwürdigung der Demokratie, zur Umkehrung des Liberalismus in Faschismus und zur Ausbeutung bieten.

Meine gesamte Arbeit in der politischen Philosophie seit mehr als zwanzig Jahren ist geprägt von dem Bemühen, den politischen Liberalismus und die liberale Demokratie zu bereichern, die in seinen Grundlagen wie in seinen Institutionen es nicht ermöglichen, die ökologischen und technologischen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern und die nicht ausreichen, um zu verhindern, in eine Kultur des Todes zu versinken, deren Manifestation das Massaker an Tieren und die Gewalt gegenüber veränderten Wesen ist, die mit ihrem Körper identifiziert werden. Ich habe unermüdlich nach Möglichkeiten gesucht, wie man der Entmenschlichung und der Auflösung der Zivilisation vorbeugen kann, und auch wenn meine Diagnose und die Themen, die den Kontext meiner Fragestellung bilden (Ökologie, Tierschutz, Demokratie), nicht im Mittelpunkt von Levinas‘ Denken stehen, so hat doch das, was er schreibt, was er kommuniziert und die Art und Weise, wie er kommuniziert, indem er sagt, dass die Fehler anderer auf meiner Unschuld lasten (das ist eine der Definitionen der Stellvertretung), also indem er es sich verbietet, sich außerhalb des Bösen zu stellen, indem er sich selbst als Opfer brandmarkt, sehr inspiriert.

Levinas auch als politischen Denker zu lesen bedeutet zu verstehen, dass Politik nicht auf ein Spiel zur Durchsetzung und Erhaltung von Macht reduziert werden kann und auch liberale Ansätze wie derjenige von John Rawls oder die Diskursethik von Habermas sowie deliberative Theorien hier nicht ausreichen. Die Demokratie von innen heraus nähren, sicherzustellen, dass die Beziehung zu anderen, zur Natur, zur Arbeit, zur Politik nicht durch Herrschaft (ein Wort, das Levinas nicht verwendet, das aber im Grunde so präsent in seinem Denken ist), durch ungezügelten Wettbewerb, durch Gewalt oder Gleichgültigkeit strukturiert wird, setzt mehr voraus als Institutionen, Prinzipien, Verfahren, auch wenn diese grundlegend sind. Über Politik nachzudenken, die uns alle betrifft, ausgehend vom Antlitz der Anderen und unserer Verletzlichkeit, unsere sterbliche und fleischliche Bedingtheit ernst zu nehmen und Freiheit als eine Freiheit zu denken, die von innen heraus durch Verantwortung verändert wird (und die Verantwortung ist nicht die Verpflichtung, weil sie vom anderen ausgeht, und kann daher auch nicht auf Pflichten reduziert werden), das hat mich auf meinen eigenen Weg geführt, auch wenn ich andere Denker konsultiert habe (insbesondere die kritische Theorie) und in meinen letzten Büchern weniger Levinas zitiere als in der Vergangenheit. Ich hoffe, dass dieses Buch, das die Wege aufzeigt, die durch diese Lektüre von Levinas eröffnet wurden, deutsche Autoren und Leser inspirieren wird.

Heute die Demokratie zu unterstützen, die Aufklärung zu verteidigen, die die Anti-Aufklärer von gestern und heute zunichtemachen wollen, bedeutet nicht, Slogans und leere Konzepte zu wiederholen, sondern die Tiefe dieser Konzepte zu vermitteln und zu zeigen, dass ihre Relevanz nicht in Werten begründet ist, die nur Subjektivierungen wären, sondern in unserer menschlichen Verfasstheit, in unserem Antlitz, in unserer körperlichen, verletzlichen und sterblichen Konstitution. Es gibt auch, wie ich in all meinen Büchern versucht habe zu zeigen, all diese normativen, ethischen und politischen Ressourcen, die man in der Phänomenologie findet. Indem wir das Existierende beschreiben, ausgehend von konkreten Situationen unseres Lebens (Essen, Trinken, Atmen, Schutz benötigen, Geboren werden, Schmerzen haben, Freude empfinden, Sterben, Angst haben, dem Anderen begegnen, Lieben, Rivalisieren, Hassen), können wir Strukturen der Existenz herausarbeiten, die zeigen, was wir gemeinsam haben, auch wenn ganze Teile unserer Identität sozial konstruiert sind. Auf dieser Grundlage haben wir Anhaltspunkte, um ethische, rechtliche und politische Normen zu formulieren, wie ich es in Wovon wir leben getan habe. Wir haben alles in der Hand, wir können einen nicht-hegemonialen Universalismus fördern, indem wir aus einer Phänomenologie der Körperlichkeit und der Ernährung schöpfen und einen ökologischen Existentialismus denken, wie ich es in meinem jüngsten Buch (L’être et la mer. Pour un existentialisme écologique, PUF, 2024. deutsche Übersetzung kommt 2027 bei C.H. Beck 2027) getan habe, der die Perspektive dezentriert, indem er den Menschen ‚vom Meer aus denkt‘, indem er die Einzigartigkeit des Ozeans und seinen Vorrang vor dem Land denkt. All das geschieht gewissermaßen ohne Levinas, aber ich profitiere dabei von seiner philosophischen Geste profitiert und teile mit ihm seine Besorgnis, aber auch seine Hoffnung und seinen konstruktiven Geist.

Denn selbst wenn man das Böse und seine Tiefe erkennt (und es gibt trotz ihrer Unterschiede eine gewisse Verwandtschaft zwischen den beiden Emmanuel, Emmanuel Levinas und Immanuel Kant), kann man nichts Konstruktives tun und vor allem nicht das politische Böse bekämpfen, also die Katastrophe vermeiden, wenn man die Menschheit hasst, wenn man in sich selbst wie in den anderen jegliche Liebe zur Menschheit und zu anderen erwürgt. Im Gegenteil, Levinas zeigt, dass im Antlitz eines jeden Anderen alle anderen sind und dass jeder die Spur des Unendlichen ist. Wenn man aufmerksam auf alles achtet, was dieses Antlitz eines Wesens sagt, dessen Tod die Welt aushöhlen wird und das gleichzeitig nah und getrennt ist, wird man auf das Unendliche verwiesen, das zunächst das Unendliche meiner Verantwortung ist. Diese ist alles andere als abstrakt, sondern wird vor allem gegenüber jedem Anderen ausgeübt, gegenüber dem bescheidensten aller Wesen.

 

Was denken Sie? Welcher Teil des Werkes von Levinas wurde bislang kaum berücksichtigt und sollte in Zukunft stärker in den Fokus gerückt werden?

Lange Zeit wurden die Dimension des Vergnügens und die Ernährung vernachlässigt, da man von Levinas vor allem die Reflexion über das Antlitz des Anderen, über Verletzlichkeit und Verantwortung in Erinnerung hatte. Ich denke, dass ich das in Wovon wir leben und danach korrigiert habe. Ebenso wurde Levinas oft als ethischer Autor dargestellt, ohne zu sehen, was er zur Reflexion über die Grundlagen des Politischen beitragen kann. Aber im Allgemeinen haben die Autoren, die heute über Levinas schreiben, eine sehr umfassende Sicht auf Levinas, und die Veröffentlichung von unveröffentlichten Werken, in denen man zum Beispiel erstaunliche und inspirierende Dinge über den Klang liest, bereichert die Levinas-Rezeption. Im Juli 2022 hatte ich in Cerisy ein sechstägiges französisch-japanisches Kolloquium über Levinas und Merleau-Ponty organisiert: Der Körper und die Welt. Die Akten wurden auf Französisch veröffentlicht. Ich war sehr beeindruckt von den japanischen Forschern und Forscherinnen, von denen einige zu mehreren Generationen von Levinas-Übersetzern gehören. Ich denke wirklich, dass die Forschungen zu Levinas gut verlaufen. In Frankreich gibt es manchmal Gruppen, die ihren Levinas verteidigen wollen. Aber was in der Welt über Levinas gesagt und geschrieben wird, zeigt, wie sehr dieser Autor, der erst sehr spät eine akademische Karriere gemacht hat (er hatte seinen ersten Posten an der Universität von Poitiers mit über 60 Jahren) und überhaupt nicht medienwirksam war, junge und weniger junge Autoren inspiriert.

Die Tatsache, dass er das zwanzigste Jahrhundert als Zeuge seiner Gewalt durchlebt hat und dass er so schöne und tiefgründige Gedanken weitergegeben hat, ohne sich Moden zu beugen oder mit Auszeichnungen überhäuft zu werden, all das trägt zu der Bewunderung und Dankbarkeit bei, die ich für Levinas empfinde, den ich leider nie persönlich getroffen habe, der aber in mir lebt. Ein starker Gedanke, ein wahrer Gedanke, der die Zeiten durchdringt. Er inspiriert andere, auch wenn man nicht mit allem einverstanden sein muss und Levinas, wie jeder Mensch, seine blinden Flecken hatte. Aber was wahr ist, bleibt über die Zeit bestehen, und wie ich schon sagte, jedes Mal, wenn ich Levinas wieder lese, selbst wenn ich ihn eine Weile vernachlässigt habe, um etwas anderes zu tun, bin ich von der Tiefe seines Denkens ergriffen und stelle fest, dass er mich bewegt, und ich entdecke immer wieder neue Dinge bei ihm. Das ist ein großer Gedanke, ein reicher und zutiefst menschlicher Gedanke. Im Zeitalter der KI und von ChatGPT ist es gut, diese Erfahrung zu machen, die nur von Mensch zu Mensch weitergegeben werden kann, denn es ist ein Gedanke, ein Wort, das von einem Sterblichen kommt und sich an andere Sterbliche richtet. Das ist es, was ich in diesem Seminar, das zu einem Buch geworden ist, versucht habe zu vermitteln, denn ein Seminar ist eine Begegnung. Mit sich selbst, zwischen den Studenten und dem Professor und mit einem Denker, in diesem Fall einem sehr großen Denker, der dich nährt, der dir gut tut und dich aufrüttelt, dich bewegt.

 

Corine Pelluchon ist Spezialistin für politische Philosophie und angewandte Ethik (Medizin-, Umwelt- und Tierethik) und Professorin an der Universität Gustave Eiffel, Paris. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher, von denen die meisten in Fremdsprachen übersetzt wurden. Nach einer Dissertation über Leo Strauss und Arbeiten über das Lebensende und die Probleme im Zusammenhang mit medizinischen Praktiken entwickelte sie eine Philosophie der Körperlichkeit, die aus zwei Teilen besteht, von denen sich der eine auf die Verletzlichkeit und der andere auf unsere Besiedlung der Erde konzentriert, die immer ein Zusammenleben mit anderen Lebewesen ist. Diese von der Phänomenologie inspirierte Philosophie, die die Beziehungsdimension des Subjekts betont, artikuliert eine philosophische Anthropologie mit einer politischen Theorie und führt dazu, dass die Ökologie und die Sache der Tiere in den Mittelpunkt von Ethik und Politik gerückt werden. In diesem Werk, das Teil des Erbes der Aufklärung ist, aber über deren dualistische und anthropozentrische Grundlagen hinausgeht, sind die Ökologie und die Sache der Tiere nie von der Förderung eines neuen Humanismus zu trennen.

Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter dem Günther-Anders-Preis für kritisches Denken in Deutschland für ihr Gesamtwerk und dem Dr.-Leopold-Lucas-Preis im Jahr 2025. Für ihre theoretische und praktische Arbeit wurde sie im Juli 2021 zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt.

In ihrem aktuellen Buch Levinas verstehen. Ein Philosoph für unsere Zeit schafft Corine Pelluchon das Kunststück, eine sehr gut lesbare Einführung zu verfassen, ohne dass dies auf Kosten der argumentativen Tiefe geht.

 

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