Im Gespräch mit den Herausgebern
Im Gespräch mit Clemens Fobian, Prof. Dr. Michael Lindenberg und Rainer Ulfers, den Herausgebern des neuen Lehrbuchs „Jungen als Opfer von sexueller Gewalt –Ausmaß, theoretische Zugänge und praktische Fragen für die Soziale Arbeit“:
1) Seit Januar liegt uns die 2. aktualisierte und erweiterte Auflage Ihres Lehrbuchs „Jungen als Opfer von sexueller Gewalt“ druckfrisch vor. Was ist die Zielsetzung Ihres Werkes und warum stand eine Aktualisierung der ersten Auflage an?
Wir wollen Fachkräfte in der Sozialen Arbeit für das Thema ‚Jungen als Betroffene von sexualisierter Gewalt‘ sensibilisieren, sodass sie frühzeitig unterstützend handeln können. Ein Aspekt ist dabei die Schärfung geschlechtsspezifischer Wahrnehmung. Warum werden Jungen seltener als Betroffene identifiziert, was behindert sie bei der Hilfesuche? Vorherrschende Geschlechterverhältnisse und daraus resultierende Rollenerwartungen und -zuschreibungen spielen eine entscheidende Rolle, die sowohl die Sicht auf Jungen beeinflusst (‚Jungen passiert so etwas nicht‘), aber auch das Verhalten von Jungen nach wie vor prägt (‚als Junge darf ich keine Angst haben‘, Hilfe suchen ist unmännlich‘). Außerdem geben wir praxistaugliche Hilfestellung für den Umgang mit und die Sicht auf betroffene Jungen.
In der Aktualisierung wurden neue Forschungsergebnisse aufgenommen. Durch reflektierende Fragen am Ende jeden Kapitels und durch eine Zusammenfassung in FAQs gewährleisten wir eine noch stärkere Nutzung für die Ausbildung und Praxis.
2) Sie möchten Praktiker:innen aus der Sozialen Arbeit Werkzeuge an die Hand zu geben, um von sexueller Gewalt betroffene Jungen und Männer adäquat beraten zu können. Haben Sie feststellen können, dass es hier dringenden Handlungs-, Beratungs-, Nachholbedarf gibt?
Sexualisierte Gewalt wird immer wieder diskutiert, Ende der 1970er Jahre insbesondere initiiert durch Teile der Frauenbewegung und selbstbetroffene Frauen., nach dem Erscheinen von Barbara Kavemanns Buch ‚Väter als Täter‘ 1983 und 2010 nach der Aufdeckung sexualisierter Gewalt in Institutionen (Kirchen, Internate, Odenwaldschule etc.) weitete sich das gesellschaftliche Bewusstsein erneut. Gab es vor 2010 noch eine starke Gegenwehr gegen den Tabubruch, sexualisierte Gewalt im sozialen Nahbereich zu thematisieren, so setzte ab 2010 eine breite Reaktion in Gesellschaft und Politik ein (Initiierung von Runden Tischen, Etablierung der Stelle des Unabhängigen Beauftragen für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs). Jetzt wurden auch Jungen als Betroffene stärker wahrgenommen.
Trotzdem herrscht immer noch eine gewisse Scheu, mit (betroffenen und nichtbetroffenen) Jungen darüber zu reden, und das auch unter Fachleuten. Nach wie vor ist das sehr schambesetzt und kann Ängste und Unsicherheiten hervorrufen. Allerdings werden sich durch die größere Aufmerksamkeit immer mehr Jungen und Männer ihrer eigenen Betroffenheit bewusst Sie brauchen qualifizierte Ansprechpersonen in den psychosozialen Arbeitsfeldern.
3.) Wem möchten Sie Ihr Buch unbedingt ans Herz legen?
Dieses Buch richtet sich besonders an das gesamte psychosoziale Arbeitsfeld jener Haupt- und Ehrenamtlichen, die mit den Jungen in Kontakt sind, insbesondere Erzieher:innen, Sozialpädagog:innen, Lehrkräfte, aber auch Therapeut:innen und Kinderärzte) Auch von Auszubildenen an den Erzieher:innenfachschulen und Studierenden in den Studiengängen der Sozialen Arbeit wissen wir, dass diese Themen nicht in den Curricula vorkommen und wir eine Lücke schließen können. Nicht vergessen werden sollte neben dem weiten Feld staatlicher Erziehungshilfen auch der ehrenamtliche Bereich (im Sport, in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Verbandsarbeit oder in der Begleitung von Geflüchteten).