Rechtsdurchsetzung mittels Legal Tech-Plattformen

Rechtsdurchsetzung mittels Legal Tech-Plattformen

von Dr. Jan David Hendricks

Seit den Legal Tech-Grundsatzurteilen des BGH (VIII ZR 285/18 und II ZR 84/20) ist klar, dass neue, nichtanwaltliche Rechtsdienstleister am Rechtsdienstleistungsmarkt tätig sein dürfen. Diese Anbieter helfen – nicht ohne wirtschaftliches Eigeninteresse – Anspruchsinhabern, ihre Rechte durchzusetzen, insbesondere durch sog. unechte Sammelklagen und im Bereich der Bagatellansprüche.

Rechtsdurchsetzungslücken & ihre Ursachen

Die Möglichkeit, eigene Rechte durchzusetzen, ist zentrales Versprechen des Rechtsstaats. Kann ein Anspruch nicht durchgesetzt werden, ist er für seinen Inhaber wertlos. Schon seit langem wird außerdem oft – man denke nur an das soziale Mietrecht und die Mietpreisbremse – zum Instrument der sog. Privaten Rechtsdurchsetzung gegriffen: Subjektive Rechte sollen durch die jeweiligen Rechtsinhaber durchgesetzt werden, damit gleichzeitig die Gesellschaft insgesamt davon profitiert. Dieser Ansatz kann nur erfolgreich sein, wenn die Rechtsinhaber ihre Rechte flächendeckend durchsetzen können. Dafür bedarf es insbesondere unterstützender Dienstleister (z.B. Rechtsanwälte, Rechtsschutzversicherer). Denn Laien führen den „Kampf ums Recht“ nur in den seltensten Fällen unterstützerlos. In dieser Infrastruktur klaffen Lücken im Bereich der Bagatell-, Massen- und Streuschäden, sodass dort Ansprüche oft nicht durchgesetzt werden.
Warum? Der Rechtsinhaber sieht sich so hohen Hürden gegenüber, dass der mögliche Gewinn den Aufwand nicht lohnt. Wichtigste Hemmfaktoren sind hohe Kosten, drohendes Verlustrisiko sowie das Machtgefälle zwischen den Konfliktparteien. Diese Hürden wurden vom bisherigen Unterstützungsangebot nicht ausreichend abgesenkt, sodass sie zum Rationalen Desinteresse kulminieren.

Legal Tech-Inkasso als Lösung? – Chancen & Risiken

Nichtanwaltliche Rechtsdienstleister, meist als Inkassodienstleister registriert, § 10 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 RDG (z.B. flightright.de), haben die Lücken erkannt und bieten ein neues Modell: Sie übernehmen die Durchsetzung von treuhänderisch an sie abgetretenen Ansprüchen gegen ein Erfolgshonorar, Dienstleister unterliegen dem RDG und bieten insgesamt ein rundum-sorglos-Paket aus Rechtsdurchsetzung und Prozessfinanzierung an, das die Hemmfaktoren nahezu beseitigt.

Das Angebot ist niedrigschwellig online erreichbar. Durch breites Marketing wird die Bevölkerung oft erst auf bestehende Ansprüche aufmerksam – wie etwa bei der Rückforderung von Verlusten beim illegalen Online-Glücksspiel. Ein komplexer Konflikt wird durch eine Abtretung vollständig an den Anbieter delegiert. Ein Verlustrisiko besteht dank der Erfolgshonorarfinanzierung nicht. Weil der Inkassodienstleister an die Stelle des Anspruchsinhabers tritt, kämpft nun nicht mehr David gegen Goliath, sondern Goliath gegen Goliath. Insgesamt wird dadurch der Zugang zum Recht deutlich erleichtert und damit der Rechtsstaat gefördert.

Bei alledem dürfen Risiken nicht aus dem Blick geraten. Kritik wurde insbesondere dahingehend geäußert, dass dasselbe Geschäftsmodell von Anwälten aufgrund berufsrechtlicher Vorgaben nicht angeboten werden dürfe. Anwälte unterlägen insoweit Wettbewerbsnachteilen. Überdies wurden bekannte Szenarien bemüht: Die teilkollektivierte Rechtsdurchsetzung würde zu „amerikanischen Verhältnissen“ in Deutschland führen, eine gewerbliche Klageindustrie würde den Rechtsstaat aus eigenem Gewinnstreben missbrauchen. Zudem sei es schädlich, wenn „zu viel“ Recht durchgesetzt würde und die deutsche Justiz sei der Prozessflut gar nicht gewachsen.

Regulierungsbedarf

Diese Gemengelage erfordert eine ausgewogene Regulierung, die die Vorteile der Legal Tech-Dienstleister bewahrt, aber potenzielle Risiken minimiert. Gleichzeitig muss eine Überregulierung zur Verhütung bloßer Scheingefahren vermieden werden, um nicht die Funktionsfähigkeit der neuen Dienstleister zu gefährden. Mögliche Ansätze sind Liberalisierungen im anwaltlichen Berufsrecht, die Schaffung eines Berufsrechts für nichtanwaltliche Dienstleister, das Flottmachen der Justiz oder eine weitere Reform des kollektiven Rechtsschutzes – wie zuletzt durch das VDuG. Es bleibt noch abzuwarten, ob die bisherigen Reformen in BRAO und RDG seit 2021 sowie die weitere digitale Aufrüstung des Rechtsstaates bereits ausreichend waren. Wegzudenken sind die Dienstleister aus dem modernen Rechtsdienstleistungsmarkt jedenfalls nicht mehr.


Dr. Jan David Hendricks ist Rechtsreferendar im OLG-Bezirk Hamm und forscht schwerpunktmäßig zu Schnittstellenthemen rund um die Digitalisierung. Seine Dissertation mit dem Titel „Rechtsdurchsetzung mittels Legal Tech-Plattformen“ erschien im Nomos-Verlag in der Schriftenreihe des Instituts für Anwaltsrecht. Seine Arbeit wurde mit dem Ernst-Zander-Preis 2024 des Instituts für Unternehmensführung (ifu) und dem Dr. Klaus Marquardt-Preis der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum e. V. (GdF) ausgezeichnet.