Versorgungs- und Produktsicherheit in Krisenzeiten

Versorgungs- und Produktsicherheit in Krisenzeiten: Das neue “CE”-Krisenrecht

Von Dr. Sebastian Felz

Am 5. Mai 2023 hob die Weltgesundheitsorganisation den internationalen Gesundheitsnotstand in Bezug auf das Coronavirus SARS-CoV-2 auf, der über drei Jahre zuvor am 30. Januar 2020 ausgerufen worden war. Die Coronapandemie war auch ein Stresstest für das europäische Harmonisierungsrecht im Bereich der Produktsicherheit. Denn Masken im Sinne der europäischen Medizinprodukteverordnung sowie der Verordnung über persönliche Schutzausrüstung waren im Frühjahr 2020 knapp. Die Produktionsorte von Masken in China waren teilweise Hotspots des Virus, die Lieferketten wurden daher gestört und eine europäische Produktion von Schutzgütern war praktisch nicht vorhanden.

 

Die Europäische Kommission reagierte mit der Empfehlung 2020/403 vom 13. März 2020 über Konformitätsbewertungs- und Marktüberwachungsverfahren im Kontext der COVID-19-Bedrohung, mit welcher sie die Vorgaben der PSA-Verordnung und der Medizinprodukte-Verordnung modifizierte. Damit wurde offenbar, dass es im Bereich des Marktüberwachungs- und Produktsicherheitsrechts des non-food-Bereichs kein „Krisenrecht“ gab. Dies soll sich mit dem im September 2022 vorgelegten Legislativvorschlag für ein Binnenmarkt-Notfallinstrument („Single Market Emergency Instrument“, kurz: SMEI) ändern. Das Europäische Parlament hat zwischenzeitlich einen neuen Namen durchgesetzt: Aus SMEI wird nun IMERA (Internal Market Emergency and Resilience Act).

Sicherung des freien Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehrs im Binnenmarkt

Das Gesetzespaket enthält einen Grundrechtsakt sowie zwei Rechtsakte zur Änderung des Harmonisierungsrechts. Dieses Gesetzeswerk zielt darauf ab, den freien Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr im Binnenmarkt in Krisensituationen zu gewährleisten und strategisch wichtige Lieferketten aufrechtzuerhalten. Situationen wie zu Beginn der Covid-19-Pandemie mit Beschränkungen der Waren- und Personenverkehrsfreiheit sollen so zukünftig verhindert werden. SMEI gilt nicht in den Bereichen Medizin, Finanzen, Strom, Lebens- und Futtermittel. Konkret schlägt die Kommission u. a. einen dreistufigen Ansatz zum Krisenmanagement mit entsprechenden Einzelmaßnahmen vor. Auf der ersten Stufe, dem „Präventions-Modus“, soll eine Risikobewertung potenziell gefährdeter strategischer Güter und Dienstleistungen erfolgen. Für schwerwiegende Ereignisse sieht IMERA den Überwachungsmodus für den Binnenmarkt vor. Ein solches Ereignis liegt gemäß Artikel 3 Absatz 3 des Verordnungsentwurfs vor, wenn die Gefahr einer erheblichen Unterbrechung der Versorgung mit strategisch relevanten Waren und Dienstleistungen besteht.

CE-Krisenrecht für krisenrelevante Produkte

Als letzte Stufe der Krisenreaktionsstruktur von IMERA ist der Notfallmodus vorgesehen, welcher im Fall einer Krise mit weitreichenden Auswirkungen auf den Binnenmarkt, wie Beeinträchtigungen bei notwendigen Lieferketten oder der Binnenmarktfreizügigkeit, aktiviert werden kann. Für die Feststellung eines Notfalls dienen laut Artikel 13 des IMERA-Grundaktentwurfs verschiedene Indikatoren. Im Fall der Aktivierung des Notfallmodus erstellt die Europäische Kommission per Durchführungsrechtsakt eine Liste der krisenrelevanten Waren und Dienstleistungen. Zu diesen möglichen Krisenprodukten zählen folgende Gruppen nach Art. 26 der sog. Omnibus-Rechtsakte: Outdoor-RL, Maschinen-RL, ortsbewegliche Druckgeräte-RL, einfache Druckbehälter-RL, elektromagnetische Verträglichkeit-RL, Aufzugs-RL, ATEX-RL, Niederspannungsgeräte-RL, Funkanlagen-RL, Druckgeräte-RL sowie die Seilbahn-VO, PSA-VO, Gasgeräte-VO und Bauprodukte-VO. Gegebenenfalls fallen noch Produktgruppen heraus. Das Europäische Parlament hat die Verbraucherprodukte i.S.d. Verordnung (EU) 2023/988 hinzugenommen. Produkte mit besonderen Sicherheitsspezifikationen, wie Düngemittel, pyrotechnische Gegenstände, zivile Explosivstoffe und nichtselbsttätige Waagen und Messgeräte wurden aus dem Katalog entfernt.

 

Sollten diese Produkte als krisenrelevant (Art. 3 Abs. 6 des Grundaktes) eingestuft werden, dann gilt eine Priorisierung der Konformitätsbewertung und der Marktüberwachung dieser Geräte und Maschinen.

Lessons learned aus Corona

Die nationalen Behörden sollen die Möglichkeit bekommen, ausnahmsweise und vorübergehend das Inverkehrbringen von Produkten zu genehmigen, die nicht den üblichen, in den jeweiligen sektorspezifischen EU-Rechtsvorschriften vorgeschriebenen Konformitätsbewertungsverfahren unterzogen wurden. Es kann auch von der Hinzuziehung einer notifizierten Stelle abgewichen werden. Diese Maßnahmen sind zu notifizieren. Die Produkte sind entsprechend als „krisenrelevante Produkte“ zu kennzeichnen. Die behördlichen Genehmigungen müssen entsprechende Verfahrensvorgaben enthalten. Sie dürfen keine CE-Kennzeichnung tragen. Für den Fall, dass Normen für die Krisenprodukte nicht existieren oder ihre Einhaltung durch die krisenbedingten Störungen übermäßig erschwert werden könnte, können auch gemeinsame Spezifikationen für die Dauer des Binnenmarkt-Notfalls erarbeitet werden. In 18 Monaten nach Inkrafttreten sind die Notfallregeln durch die Mitgliedstaaten anzuwenden. Der Trilog wurde Anfang Februar 2024 beendet. Mit IMERA hat die Europäische Union ihre Lehren aus der Corona-Pandemie gezogen. Es bleibt zu hoffen, dass aus diesen „lessons learned“ kein Praxisfall wird.

 

 

 

Dr. Sebastian Felz ist Referent im Referat IIIb5 Produkt-, Anlagen – und Betriebssicherheit des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Bonn.