Quo vadis, Demokratie? Die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements für die herausgeforderte Demokratie

16.01.2025

Quo vadis, Demokratie? Die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements für die herausgeforderte Demokratie

Im Gespräch mit Andrea Walter und Emra Ilgün-Birhimeoğlu

Rechtsruck, Kriege, Umweltkatastrophen – die aktuellen Herausforderungen in Politik und Gesellschaft lassen viele Menschen mit einem Gefühl der Unsicherheit und Aussichtslosigkeit zurück. Doch gerade in solch schwierigen Zeiten kann zivilgesellschaftliches Engagement eine Schlüsselrolle spielen – nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Demokratie als Ganzes.

In unserem aktuellen Beitrag zu Quo vadis, Demokratie? werfen Prof. Dr. Andrea Walter und Prof. Dr. Ilgün-Birhimeoğlu einen Blick auf die Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Engagements in Deutschland. Sie erläutern, wie Engagement zur Stärkung unserer Demokratie beiträgt und beleuchten aktuelle Entwicklungen und Trends im Bereich des zivilgesellschaftlichen Engagements.

 

Zivilgesellschaftliches Engagement macht aus, dass Menschen sich gemeinschaftlich und aus eigenem Willen heraus für gemeinschaftliche Belange einsetzen, ob im Vorstand des Sportvereins oder als Spontanhelfende bei Flutkatastrophen. Was motiviert Menschen sich in diesen Zeiten zu engagieren? Und fühlen sich Engagierte manchmal auch als Lückenbüßer?

Andrea Walter: Es ist oft ein Mix an altruistischen Werten, egoistischer Erwägungen und sozialen Motiven, der erklärt, warum Menschen eine freiwillige Tätigkeit übernehmen: Sie möchten mit anderen Generationen in Kontakt kommen und etwas in ihrer Freizeit machen, was ihnen Freude macht, womit sie Anerkennung erfahren und im besten Falle Selbstwirksamkeit.

Studien zeigen aber auch gleichzeitig, dass Menschen mit der Übernahme eines Engagements bereit sind, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und Menschen zu helfen. In einer aktuellen repräsentativen Befragung in Nordrhein-Westfalen wurden speziell Menschen, die sich nicht engagieren, nach ihren Gründen gefragt. Nur jede zehnte Person hat hier geantwortet, dass sie sich nicht in der Verantwortung sieht. Das unterstreicht die große Bereitschaft in Deutschland, sich – gerade auch in den aktuell angespannten Zeiten – für das Gemeinwohl einzusetzen und nicht den Staat allein in der Verantwortung für die Sicherung der Daseinsvorsorge zu sehen.

Die spezielle Motivation „Wenn ich es nicht mache, macht es keiner“ erleben wir besonders bei Engagierten in ländlichen Räumen. Stärker als in urbanen Räumen ist zivilgesellschaftliches Engagement hier darauf ausgerichtet, Angebote aufrechtzuerhalten, die ggf. ohne Engagierte wegbrechen würden. Beispielsweise die Gründung eines Bürgerbadvereins, der die Schließung des Hallenbads abwendet, und den Betrieb ehrenamtlich sicherstellt.

Tatsächlich kann hier das Gefühl bei Engagierten aufkommen, als Lückenbüßer zu agieren. Idealtypisch soll zivilgesellschaftliches Engagement staatliche Leistungen nicht ersetzen, sondern ergänzen: In der Realität sind die Grenzen hier jedoch manchmal fließend.

Die aktuellen Zeiten sind geprägt durch Vertrauensverlust in politische Institutionen und das gleichzeitige Erstarken rechtspopulistischer Initiativen und Parteien. Kann zivilgesellschaftliches Engagement einen konkreten Beitrag leisten, um hier gegenzuhalten und die Demokratie zu stärken?

Emra Ilgün-Birhimeoğlu: Zivilgesellschaftliches Engagement kann hier zweierlei bewirken. Zum einen kann durch das gemeinschaftliche Engagement einen Gegenentwurf zu nicht authentischen und verlässlichen Beziehungen entstehen. So kann die Erfahrung von Solidarität und gemeinsamen Zielen Gefühle von Sicherheit und Vertrauen erhöhen.

Zum anderen kann in dem gemeinsamen Engagement mit Vielen wirksamer gegen rechte Strukturen gestanden werden. Sei es nun in Form von Protest oder in der schlichten Existenz antirassistischer Organisationen. Es ist schwierig als Individuum gegen rechte Tendenzen auf struktureller und institutioneller Ebene anzugehen. In der Gemeinschaft ist dies oft einfacher und wirksamer. Ehrlicherweise muss aber auch gesagt werden, dass der Druck von rechts auf Organisationen, die sich gegen Rassismus engagieren, zunimmt. Das führt einerseits dazu, dass sie anderen Engagementbereichen kaum nachgehen können, da das Abschirmen rechter Angriffe unterschiedlicher Art viel Kraft und Ressourcen erfordert. Andererseits führen diese Angriffe zu existentiellen und persönlichen Sorgen. Gerade in rechtsdominierenden Regionen müssen sich widerständige Organisationen um ihre Existenz sorgen. Drohungen von rechts, die sich bundesweit gegen Engagierte richten und ihre Angehörigen oftmals einschließen, führen aus Furcht immer wieder zu einem Abbruch des Engagements. Folglich können zivilgesellschaftliche Institutionen nicht nur demokratiefördernd sein, sondern müssen als ein Element von Demokratieförderung auch besser geschützt werden. Vielfältiges zivilgesellschaftliches Engagement unter sicheren Bedingungen ist zentral für unsere Demokratie.

Es ist schwierig als Individuum gegen rechte Tendenzen auf struktureller und institutioneller Ebene anzugehen. In der Gemeinschaft ist dies oft einfacher und wirksamer.

Prof.in Dr. Emra Ilgün-Birhimeoğlu

Sie haben herausgestellt, wie wichtig Engagement für die Gesellschaft ist und dass Menschen Verantwortung übernehmen wollen. Gleichzeitig hören wir jedoch immer wieder Meldungen über Vereinsauflösungen in ländlichen Räumen oder dass Menschen sich heute lieber begrenzt projektbezogen als verbindlich im Rahmen einer längerfristigen Tätigkeit engagieren. Wie entwickelt sich denn aktuell das Engagement in Deutschland?

Andrea Walter: Wir beobachten, dass das Engagement in Deutschland seit den vergangenen 25 Jahren insgesamt recht stabil ist, dass es sich jedoch strukturell sukzessive wandelt – und zwar regional in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten.

So sehen wir einerseits, dass Vereinsmitgliedschaften – als potenzieller Nährboden für ein Engagement – in einigen Bereichen sogar zunehmen (beispielsweise aktuell im Sport) und spontane, ungebundene Formen von Engagement, etwa die Spontanhilfe bei Umweltkatastrophen, Nachbarschaftshilfe oder die informelle Unterstützung von Geflüchteten Zulauf erhalten. Gleichzeitig erleben wir jedoch in einigen Regionen in Deutschland, dass Vereine sich verstärkt auflösen und deutschlandweit ist es kein neues Phänomen, dass zivilgesellschaftliche Organisationen wie Vereine, Stiftungen oder gemeinnützige Genossenschaften oft ihre ehrenamtlichen Leitungsfunktionen nicht besetzt bekommen.

Ein entscheidender Erklärungsansatz für die mangelnde Bereitschaft zur Übernahme zeitintensiver Engagementtätigkeiten oder längerfristiger Leitungsfunktionen liegt darin, dass der eingesetzte Zeitaufwand von Engagierten sukzessive abnimmt. D.h. viele Menschen sind grundsätzlich bereit, sich zu engagieren, aber im Sinne der Vereinbarkeit mit Privat- und Berufsleben bleibt für das Engagement eben oft nur ein begrenzter Zeiteinsatz.

In Bezug auf die Bereitschaft von Menschen zur Übernahme eines Engagements darf auch der Blick auf mögliche soziale Ungleichheiten und Ausschlüsse nicht fehlen. So wissen wir, dass Faktoren wie der Bildungsabschluss, der Erwerbsstatus oder das verfügbare Einkommen eine Rolle bei der potenziellen Übernahme eines Engagements spielen. Die Engagementforschung beschäftigt sich seit einigen Jahren verstärkt mit der Frage, inwiefern Engagement soziale Ungleichheiten reproduziert und wie Engagement inklusiver gestaltet werden kann.

Dann schauen wir doch einmal genauer hin bei ausgewählten sozialen Gruppen. Wie steht es denn etwa um die Bedingungen für das Engagement von migrantisierten Personen und zivilgesellschaftlichen „Migrationsorganisationen“?

Emra Ilgün-Birhimeoğlu: Tatsächlich können wir feststellen, dass rassismuskritische und diskriminierungssensible Ansätze in vielen Bereichen des zivilgesellschaftlichen Engagements fehlen oder kaum entwickelt sind. Rassismus als gesellschaftliches Strukturprinzip hat Auswirkungen auf das zivilgesellschaftliche Engagement in von Migration geprägten Gesellschaften. Obwohl zivilgesellschaftliches Engagement in der Gesellschaft wichtige Funktionen innehat, sind vor dem Hintergrund strukturell eingebetteter organisationsinterner und -externer Exklusionspraktiken zahlreiche Hindernisse zu beobachten. Migrantisierte und rassifizierte Personen sehen sich oftmals im Zugang zu und beim Verbleib und Aufstieg in dominanzgesellschaftliche/n Organisationen mit Ausschlüssen konfrontiert. Vor diesem Hintergrund kann die Gründung von und die Teilhabe in eigenen, zivilgesellschaftlichen Organisationen als eine Alternative zur Kanalisierung des Engagementpotenzials gelesen werden. Die Gründung von Selbstorganisationen stellen darüber hinaus Schutz- und rassismuskritische Räume dar.

Damit das zivilgesellschaftliche Engagement als relevante Säule einer demokratischen Gesellschaft seine Möglichkeiten vollständig entfalten kann, bedarf es rassismuskritischer Gegenmaßnahmen. Diese müssen sowohl auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wie in den Organisationen zivilgesellschaftlichen Engagements und der politischen Engagementförderung verankert sein.

Wie können Kinder und Jugendliche schon frühzeitig für Engagement begeistert werden?

Emra Ilgün-Birhimeoğlu: Kinder und Jugendliche sind erstmal sehr motiviert, sich zivilgesellschaftlich einzubringen. Sie haben meist zahlreiche Ideen und Ziele, die sie gern umsetzen möchten. Leider werden sie aber sowohl im Zugang zum Engagement als auch in ihrem Engagement immer wieder ausgebremst. So werden Minderjährige mit ihren Anliegen und Kompetenzen oft nicht ausreichend ernst genommen und berücksichtigt. Folglich empfinden Kinder und Jugendliche Erwachsene als nicht solidarisch. Daher geht es auch hier um eine diskriminierungskritische Betrachtung eigener Strukturen hinsichtlich der Ausschlüsse von Kindern und Jugendlichen. Sie sollten stets mitgedacht werden. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Familien befürchten, ihre Kinder könnten in den Räumen zivilgesellschaftlichen Engagements von unterschiedlichen Formen von Gewalt betroffen sein. Es bedarf folglich systematischer Schutzkonzepte für Kinder und Jugendliche, die offen und transparent kommuniziert werden.

Im Dezember veröffentlichte die Bundesregierung ihre Engagementstrategie für den Bund. Was ist denn Aufgabe des Staates bei der Förderung des Engagements?

Andrea Walter: Da zivilgesellschaftliches Engagement zentrale Funktionen für die Gesellschaft ausübt, ist es ganz wichtig, dass der Staat Engagement aktiv fördert – und zwar mit der Schaffung guter Rahmenbedingungen. Dies trifft auch die Erwartungen der Engagierten. So wissen wir aus Studien, dass Engagierte sich nicht primär höhere Aufwandsentschädigungen oder persönliche Benefits wünschen, sondern für sie drückt sich Wertschätzung in erster Linie in der Bereitstellung guter Rahmenbedingungen aus, etwa in Ansprechpersonen vor Ort, Angeboten zur Qualifizierung und Unterstützung bei der Bewältigung von bürokratischen Fragen oder bei der Akquise von Fördermitteln. So ist neben der Gewinnung von Engagierten die Bindung mindestens genauso wichtig. Frustration kann durchaus dazu führen, dass Engagierte ihre freiwillige Tätigkeit abbrechen.

Bei den Rahmenbedingungen sind Kommunen, Land und Bund gleichermaßen gefragt. In den vergangenen Jahren sind auf allen Ebenen wichtige Strukturen entstanden. So ist etwa im Jahr 2020 die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt gegründet worden, die das Engagement speziell in ländlichen, strukturschwachen Räumen mit Förderungs-, Vernetzungs-, Beratungs- und Bildungsangeboten stärkt. Auch viele Länder haben im Rahmen der Verabschiedung von Engagementstrategien Fördermittel, Beratungs- und Qualifizierungsangebote initiiert und verstärkt. Auch auf kommunaler Ebene wurden teilweise verstärkt Ressourcen eingebracht und Strategien mit der Zivilgesellschaft vor Ort erarbeitet. Im Zuge knapper Kassen drohen jedoch gerade auf kommunaler Ebene, Strukturen der Engagementförderung auf den Prüfstand gestellt zu werden. Immer wieder wird damit argumentiert, dass Engagementförderung ja keine kommunale Pflichtaufgabe sei.

Hier ist dringend zu hoffen, dass die in den vergangenen Jahren aufgebauten Strukturen nicht wieder einreißen und Politik und Verwaltung für den oben bereits beschriebenen Wandel des Engagements sensibilisiert sind. Es gibt noch viel zu tun in der Engagementförderung: Etwa die weitere Modifizierung des Gemeinnützigkeitsrechts, eine noch stärkere Abstimmung der bisher aufgebauten Strukturen und eine Überprüfung etablierter Angebote in Bezug auf die gewandelten Erwartungen und Bedarfe der Engagierten.

Es ist ganz wichtig, dass der Staat Engagement aktiv fördert – und zwar mit der Schaffung guter Rahmenbedingungen

Prof.in Dr. Andrea Walter

Prof.in Dr.in Andrea Walter ist Professorin für Politikwissenschaft und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen am Studienort Dortmund. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit Fragen zur Entwicklung des Engagements in der lokalen Daseinsvorsorge, zur Zusammenarbeit von Engagement und Staat in Kontexten von Engagementförderung, Bürgerbeteiligung und sektorübergreifender Zusammenarbeit.

Prof.in Dr.in Emra Ilgün-Birhimeoğlu ist Professorin für Migration, Integration, Partizipation an der Fachhochschule Dortmund am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Migration und zivilgesellschaftliches Engagement sowie Rassismuserfahrungen in Familien (mit jungen Kindern).

Ziel von Quo vadis, Demokratie? ist es, dem wissenschaftlichen Diskurs und Austausch eine Plattform zu bieten. Dazu schaffen wir Raum für die kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen zur Zukunft unserer Demokratie. Neben aufschlussreichen Interviews und Diskussionen stellen wir auch aktuelle wissenschaftliche Beiträge frei zur Verfügung.