Charta der Athletenrechte

04.04.2025

Charta der Athletenrechte

Von Dr. Michael Kintrup

Nachdem das von der Ampel-Koalition initiierte Sportfördergesetz (BT-Drs. 20/14023) vorerst gescheitert ist und der Aufbau des Zentrums für Safe Sport nach langwierigen Verhandlungsprozessen endlich Formen annimmt, scheint die öffentliche Diskussion über zentrale Reformen im deutschen Spitzensport eine Atempause einzulegen. Damit öffnet sich ein passendes Zeitfenster, um einige grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen näher zu beleuchten, die in der Debatte allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt haben.

Das Spannungsfeld aus Athletenrechten und der Autonomie der Sportorganisationen

Dies betrifft insbesondere die Frage, welche Rolle der Staat im Kontext des Spannungsfelds aus den Grund- und Menschenrechten der Athleten und der verfassungsrechtlich ebenfalls verbürgten Autonomie privater Sportorganisationen einnimmt. Ungeklärt ist dabei, unter welchen Voraussetzungen der Staat als ultima ratio auch mittels gesetzlicher Regelungen auf das Rechtsverhältnis der Akteure Einfluss nehmen kann oder unter Umständen sogar muss. Die Frage drängt sich nicht ohne Weiteres auf. Denn zunächst einmal ist es den privaten Akteuren, zuvorderst Athleten, Vereinen und Verbänden, selbst überlassen, ihre Rechtsbeziehungen im Rahmen der Privatautonomie auszugestalten. Die vor allem durch die Autonomie und das Ein-Platz-Prinzip gekennzeichnete Organisation des Weltsports kann allerdings bestimmten strukturellen Ungleichgewichtslagen im Leistungssport Vorschub leisten.

 

Zahlreiche Sportverbände haben darauf mittlerweile reagiert und umfangreiche Konzepte verabschiedet, um ihrer Verantwortung zur Achtung und zum Schutz der Grund- und Menschenrechte innerhalb ihres Zuständigkeits- und Einflussbereichs Ausdruck zu verleihen. Orientiert an den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verabschiedete im Jahr 2017 zunächst der Weltfußballverband FIFA seine Menschenrechts-Policy, die mit der Einführung einer Menschenrechts-Klausel in Art. 3 der FIFA-Statuten korrespondiert. Das IOC zog nach und präsentierte im Jahr 2018 die umstrittene „Athletes‘ Rights and Responsibilities Declaration“, eine auf die Rechtsstellung olympischer Athleten zugeschnittene, als solche allerdings unverbindliche Erklärung. Im Jahr 2022 veröffentlichte das IOC zudem den „Strategic Framework on Human Rights“, bevor es am 16. Oktober 2023 weitere Menschenrechtsbezüge in die IOC-Charta aufnahm. Was aber, wenn typischerweise staatlich geförderte Spitzensportverbände wiederholt und über längeren Zeitraum scheinbar nicht in der Lage sind, erheblichen Beeinträchtigungen bestimmter Grund- und Menschenrechte ausreichend entgegenzuwirken und Betroffenen wirksam Abhilfe zu verschaffen? Liegt die Lösung in staatlicher oder suprastaatlicher Regulierung?

Staatliche Regulierung in den USA oder Großbritannien als Vorbild für Deutschland?

Die Problemstellung ist auf internationaler Ebene bereits Gegenstand intensiver Debatten. Beispielhaft zu nennen ist der am 30. Oktober 2020 verabschiedete „Empowering Olympic, Paralympic, and Amateur Athlete Act“. Das Gesetz räumt staatlichen Organen in den USA zusätzliche Kontroll- und Aufsichtsbefugnisse ein, die bis zur Auflösung des US-amerikanischen Olympischen und Paralympischen Komitees durch den Kongress reichen. Großbritannien beabsichtigt weiterhin die Einführung des sog. „Football Regulator“, einer unabhängigen Behörde, die den englischen Fußball überwachen soll.

Die Verankerung einer Charta der Athletenrechte als Ausprägung der staatlichen Schutzpflicht?

Tauglicher Anknüpfungspunkt für ein Eingreifen des Staates kann eine aus den Grundrechten ableitbare staatliche Schutzpflicht sein. Nicht nur die rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen einer solchen Schutzpflicht sind allerdings streng. Umstritten ist auch, welche Reichweite die staatliche Schutzpflicht hat bzw. wann der Staat seine Schutzpflicht zugunsten betroffener Grundrechtsträger verletzt. Zwar räumt das BVerfG der öffentlichen Gewalt typischerweise einen erheblichen Einschätzungs- Wertungs- und Gestaltungsspielraum ein. Wie das BVerfG in seinem Triage-Beschluss nochmals betont hat, reduziert sich das staatliche Ermessen unter anderem aber dann, wenn eine besondere Hilfsbedürftigkeit des schutzberechtigten Grundrechtsträgers vorliegt. Das Kriterium der Hilfsbedürftigkeit lässt sich in angepasster Form auch auf bestimmte strukturelle Ungleichgewichtslagen des Leistungssports in Deutschland übertragen. Zur Konkretisierung können mittels einer völkerrechtskonformen Auslegung bewährte Instrumente wie die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte herangezogen werden. Auf diesem Wege lässt sich – unter Berücksichtigung der berechtigten Aspekte der Verbandsautonomie – eine verfassungskonforme einfachgesetzliche Verankerung einer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht für bestimmte Sportverbände begründen. Die Grenze zu einer unverhältnismäßigen staatlichen Überregulierung ist allerdings fließend. Dies zeigt eindrucksvoll die aktuelle Debatte um eine gesetzliche Verankerung einer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht für Unternehmen in der EU.

 

 

Dr. Michael Kintrup ist Rechtsanwalt in der Anwaltskanzlei Osborne Clarke und Mitglied der Praxisgruppe Disputes and Risk. Als ehemaliger Bundesligahandballer berät er unter anderem Sportverbände und -vereine sowie Athletinnen und Athleten umfassend in Fragen der Gestaltung von Regelwerken und Verträgen sowie damit verbundenen Streitigkeiten vor staatlichen Gerichten und Schiedsgerichten. Sein Werk „Charta der Athletenrechte | Inhalt und Grenzen der staatlichen Schutzpflicht im Kontext struktureller Ungleichgewichtslagen des Leistungssports“ ist in der Reihe „Kölner Schriften zum Sportrecht“ aktuell im Nomos Verlag erschienen: Charta der Athletenrechte.