Interview mit Dr. Hans-Holger Herrnfeld
Wir haben uns mit Dr. Hans-Holger Herrnfeld über die Europäische Staatsanwaltschaft unterhalten, die zum 1. Juni 2021 ihre Arbeit aufgenommen hat. Die wichtigsten Informationen liefert der Herausgeber der beiden Praktikerwerke „Europäische Staatsanwaltschaft“ und „European Public Prosecutor’s Office“ hier komprimiert.
Wozu eine EU-Staatsanwaltschaft?
Der Europäischen Union und damit letztlich allen Steuerzahlern entstehen jedes Jahr immense finanzielle Schäden durch strafbare Handlungen wie etwa die betrügerische Verwendung von Subventionsmitteln oder auch die Hinterziehung von Zöllen und anderen Einnahmen der Union. Zuständig für die strafrechtliche Verfolgung solcher Delikte sind grundsätzlich die Staatsanwaltschaften und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten. Schon vor Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass die Strafverfolgung allein durch Behörden der Mitgliedstaaten nicht immer ausreichend gut funktioniert. Dies kann unterschiedliche Gründe haben. So handelt es sich bei solchen Delikten häufig um Taten mit grenzüberschreitenden Bezügen, die eine intensive grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Behörden und ein abgestimmtes Vorgehen erfordern. Und nicht immer und in allen Mitgliedstaaten hat die Verfolgung von Straftaten zum Nachteil der Europäischen Union die Aufmerksamkeit oder Priorität bekommen, die angesichts der entstehenden finanziellen Schäden geboten wäre. Daher ist mit dem Vertrag von Lissabon eine Vorschrift in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union aufgenommen worden, die die Errichtung einer spezialisierten Europäischen Staatsanwaltschaft erlaubt. Nach mehrjährigen Verhandlungen im Rat und der sich anschließenden Aufbauphase hat die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) nun im Juni 2021 ihre operative Arbeit aufgenommen.
Wer gehört zur EU-Staatsanwaltschaft?
Die Europäische Staatsanwaltschaft ist eine Einrichtung der Union mit dezentralem Aufbau. Errichtet worden ist sie im Wege der sogenannten „Verstärkten Zusammenarbeit“. Das heißt, nicht alle EU-Mitgliedstaaten nehmen daran teil. Nach Abschluss der Verhandlungen im Rat haben leider einige Mitgliedstaaten entschieden, jedenfalls zunächst nicht mitzuwirken. Nach gegenwärtigem Stand sind Dänemark, Irland, Polen, Schweden und Ungarn nicht mit dabei. Allerdings sind sie nach Unionsrecht verpflichtet, die effektive Verfolgung solcher Straftaten dann selbst in die Hand zu nehmen und außerdem zur loyalen Zusammenarbeit mit der EUStA verpflichtet.
Die EUStA verfügt über eine Zentrale, die ihren Sitz in Luxemburg hat. Die Leitung der Ermittlungsverfahren in den an der Errichtung der EUStA teilnehmenden Mitgliedstaaten sowie ggf. die Anklagevertretung vor den dortigen Gerichten wird jedoch von den sogenannten Delegierten Europäischen Staatsanwältinnen und Staatsanwälten in den Mitgliedstaaten vorgenommen. Das sind Staatsanwälte, die über einschlägige Erfahrungen aus ihrer Tätigkeit in den Behörden der Mitgliedstaaten verfügen, und die jetzt auf Vorschlag des jeweiligen Mitgliedstaates von der EUStA als Delegierte Europäische Staatsanwältinnen bzw. Staatsanwälte ernannt worden sind.
Wie ist das Verhältnis zwischen EU-Staatsanwaltschaft und der jeweiligen nationalen Staatsanwaltschaft eines EU-Mitgliedstaates?
Die Europäische Staatsanwaltschaft ist eine in jeder Hinsicht unabhängige Behörde. Im Grundsatz gilt nach Maßgabe der Verordnung über die Errichtung der EUStA: wenn die EUStA die Ermittlungen in einem bestimmten Fall aufgenommen hat, dann dürfen die Behörden der an der Errichtung der EUStA beteiligten Mitgliedstaaten nicht ihrerseits parallele Ermittlungen aufnehmen oder fortführen. Wenn die Behörden der Mitgliedstaaten Kenntnis von einer Straftat haben, für die die EUStA nach Maßgabe der Verordnung zuständig ist, so sind sie verpflichtet, die EUStA hierüber zu informieren und ihr so Gelegenheit zu geben, selbst ein Ermittlungsverfahren einzuleiten oder aber ein von den Behörden der Mitgliedstaaten bereits eingeleitetes Verfahren zu übernehmen. Die EUStA führt ihre Ermittlungen dann in enger Zusammenarbeit mit den Polizei- und Zollbehörden der Mitgliedstaaten.