Im Interview sprechen Prof. Dr. Annika Sehl und Prof. Dr. Susanna Endres über die Herausforderungen der Klassischen Medien, die Rolle von Social Media und Wege zur Stärkung der Meinungsfreiheit
Angesichts der zunehmenden Polarisierung und der wachsenden Verbreitung von Desinformation stehen die klassischen und sozialen Medien vor erheblichen Herausforderungen. In unserer Interviewreihe zur Kampagne Quo vadis, Demokratie? werfen Prof. Dr. Annika Sehl und Prof. Dr. Susanna Endres einen kritischen Blick auf die aktuelle Medienlandschaft. Sie beleuchten die Verantwortung der Medien in Zeiten politischer Kommunikationsverschmutzung und erörtern die Chancen und Risiken der sozialen Medien für den gesellschaftlichen Diskurs und die Meinungsfreiheit. Diese Expertenmeinungen bieten wertvolle Perspektiven darauf, wie Medien zur Stärkung demokratischer Werte beitragen können.
In einem Beitrag von Prof. Dr. Olaf Hoffjann in der Fachzeitschrift Communicatio Socialis wird der Begriff der politischen Kommunikationsverschmutzung als unbeabsichtigte Nebenwirkungen von Desinformation und Populismus für die politische Kommunikationskultur thematisiert. Welche Verantwortung tragen die klassischen Medien daran?
Susanna Endres: In seinem Beitrag definiert Hoffjann den Begriff der politischen Kommunikationsverschmutzung als eine Form der unbeabsichtigten Nebenwirkung „verbreiteter Praktiken in der politischen Kommunikation“. Um diese Praktiken und ihre Auswirkungen näher zu skizzieren, unterteilt er den Begriff in drei Dimensionen:
Erstens ist die Verschmutzung der politischen Kommunikation durch die zeitliche Dimension bedingt und gekennzeichnet. Die Kommunikation wird immer gehetzter – sowohl auf Seiten der Politik als auch auf Seiten des Journalismus. Insbesondere Printmedien stehen in Konkurrenz zu digitalen Angeboten und damit unter einem ständigen Aktualitätsdruck. Gerade hier zeigt sich die Verantwortung der klassischen Medien, ein attraktives Kontrastprogramm zum vorherrschenden Medientrend zu bieten. Reichweite lässt sich auch anders generieren als durch permanente Skandalisierung. Zum Beispiel, indem man sich bewusst Zeit nimmt, gründlich recherchiert und so qualitativ hochwertige Inhalte liefert.
Als zweite Dimension benennt Hoffjann die Sachdimension: Politische Kommunikation werde immer unverbindlicher, der Realitätsbezug nehme ab und Lügen, Bullshitting, Übertreibungen etc. nähmen zu. Eine solche Analyse verweist auf die Kernkompetenzen des Journalismus: Bevor Statements und Interviews veröffentlicht werden, sollten diese auf Fakten überprüft werden. Im Rahmen von Interviews sollte zudem stets auf Falschbehauptungen oder übertriebene Darstellungen kritisch reagiert werden, um gegebenenfalls nachfragen und Sachverhalte richtig stellen zu können.
Die dritte Dimension bezieht sich auf das gesellschaftliche Miteinander, das immer feindseliger werde. Hier beobachtet Hoffjann eine veränderte Kommunikationskultur und sieht die Medien direkt in der Pflicht. Spaltende und herabwürdigende Kommunikationspraktiken dürften nicht etwa als „ästhetisierend“ oder „verharmlosend“ beschrieben werden. Um einen Konterpunkt zu den lauten und feindseligen Stimmen im Politikbetrieb zu setzen, lohne es sich, gezielt auf die „leisen“ Politiker:innen zuzugehen.
Die Studie „Jugend in Deutschland 2024“ hat im Mai 2024 einen Rechtsruck in der Jugend festgestellt. Welche Gefahren bergen die Soziale Medien mit Blick auf den gesellschaftlichen Diskurs?
Annika Sehl: Die genannte Studie hat nach der Veröffentlichung der Ergebnisse methodisch einige Kritik auf sich gezogen, u. a., weil es sich um eine Trend- und keine Panelerhebung handelt und bei Online-Access-Panels, bei denen Befragte sich eigenaktiv melden können, möglicherweise solche mit bestimmten Parteipräferenzen verstärkt vertreten sind. Insofern ist mit den Ergebnissen sicherlich vorsichtig umzugehen. Auch der Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und der politischen Einstellung, den die Frage impliziert, muss sicherlich noch genauer untersucht werden. Fest steht allerdings, dass die AfD sehr präsent auf sozialen Medien und insbesondere TikTok ist und so viele Jugendliche erreicht.
Davon abgesehen lässt sich sagen, dass bei gesellschaftlichen Diskursen auf sozialen Medien beachtet werden muss, dass hier die kommerziellen Plattformunternehmen mit ihren Strukturen wesentlich den Diskurs prägen. Sie verfolgen dabei ihre wirtschaftlichen und weniger gemeinwohlorientierte Ziele. So bestimmen ihre Algorithmen beispielsweise darüber, welche Akteure oder Themen Reichweiten und damit Aufmerksamkeit generieren und welche weniger. Dabei gilt auch, dass emotionale Beiträge eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, vom Algorithmus ausgespielt zu werden und Interaktionen wie Likes oder Shares zu erhalten als sachliche Beiträge.
Obwohl auf sozialen Medien sich theoretisch nahezu jeder am Diskurs beteiligen kann, wissen wir, dass die Partizipation der Bevölkerung sehr ungleich ist und damit die Akteure auf den Plattformen und ihre Positionen nicht repräsentativ sind – und entsprechend auch nicht so verstanden werden dürfen. Gleichzeitig werden die sozialen Medien sehr gezielt für die Verbreitung von Desinformationen genutzt.
Schließlich eröffnen soziale Medien zwar die Möglichkeit, neue Themen oder Sichtweiten in gesellschaftliche Diskurse einzubringen. Dabei können Positionen jedoch auch, gerade im Schutz der Anonymität, unsachlich angegriffen werden. Hassrede ist ein zentrales Problem auf den Plattformen.
Die Gesetzgeber in den USA sehen TikTok als Gefahr für die nationale Sicherheit, da es sich um ein chinesisches Medienunternehmen handelt, dem eine Nähe zur Kommunistischen Partei vorgeworfen wird. Gedroht wird mit einem Verbot, sollte TikTok nicht sein US Geschäft verkaufen. Sollte die EU dem Beispiel Washingtons folgen?
Susanna Endres: Das angedrohte Verbot verweist zwar auf bestehende Kernprobleme von TikTok, aber auch anderer Social-Media-Plattformen: Die Sorge, was mit unseren Daten passiert, wenn wir soziale Medien nutzen, begleitet diese wohl seit ihren Anfängen und erreichte einen neuen Höhepunkt, als Meta jüngst ankündigte, unter anderem die Nutzungsdaten von Instagram zu nutzen, um die hauseigene KI zu trainieren. Tatsächlich scheint es bei dem angedrohten Verbot der Plattform in den USA jedoch weniger um allgemeine Datenschutzbedenken zu gehen, sondern vielmehr um die Sorge, dass die Daten der US-amerikanischen Nutzer:innen an die chinesische Regierung weitergeleitet und von dieser ausgewertet werden könnten. Gleichzeitig wird sicherlich auch die Meinungsmacht von TikTok und die mögliche Einflussnahme durch die chinesische Regierung problematisiert – vor allem, weil u. a. aufgrund der algorithmisch gestalteten Plattforminfrastrukturen nicht klar ist, wie öffentliche Meinung(sbildung) zustande kommt. Es bleibt also zu fragen, welche konkreten Sorgen, aber auch Interessen tatsächlich hinter den Verbotsplänen stehen: Geht es nicht eher um geopolitische Interessen als um das Wohl der Nutzer:innen? Um die tatsächlichen Probleme, die mit TikTok verbunden sind, somit in der EU anzugehen, erscheint es sinnvoller, dafür zu sorgen, dass die eigenen Datenschutzinteressen von der Plattform umgesetzt werden, dass Transparenz darüber hergestellt wird, wer auf welche Daten Zugriff hat und dass bestehende Regelungen etwa zum Jugendschutz, zur Sicherheit und zur Freiheit umgesetzt werden.
Welche Chancen zur Stärkung der Meinungsfreiheit bieten die Sozialen Medien trotz der Gefahren, die sie mit sich bringen?
Annika Sehl: Wie schon angeklungen ist, bieten die sozialen Medien theoretisch nahezu allen die Möglichkeit zur direkten Teilhabe. Zudem können neue Themen und Perspektiven in den gesellschaftlichen Diskurs eingebracht werden. Das heißt, Bürgerinnen und Bürger genauso wie zivilgesellschaftliche Akteure können sich in Diskurse einbringen und es gibt kaum Eintrittshürden wie bei klassischen Medien, um zu partizipieren. Es hat sich gezeigt, dass diese in den sozialen Medien aufkommenden Themen dann teilweise auch vom Journalismus übernommen und dort weiterdiskutiert werden. Insofern war die Diskussion über soziale Medien zunächst auch von den Potenzialen geprägt, sie hat sich aufgrund der gerade genannten Gefahren für Demokratie und Gemeinwohl aber inzwischen gedreht. Eine Forderung, die sich daraus neben der stärkeren Regulierung von Plattformen ergibt, sind gemeinwohlorientierte statt ausschließlich der kommerziellen Plattformen.
Den öffentlich-rechtlichen Medien wird von Teilen der Bevölkerung eine einseitige und unausgewogene Berichterstattung vorgeworfen. Wird die Meinungspluralität der deutschen Gesellschaft ausreichend repräsentiert?
Annika Sehl: Eine inhaltsanalytische Studie von Marcus Maurer et al. zur Perspektivenvielfalt in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformaten hat jüngst gezeigt, dass die Behauptung, die Nachrichten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks seien, verglichen mit einer Gruppe relevanter und einflussreicher deutscher Nachrichtenmedien außerhalb des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, besonders einseitig, nicht zutrifft. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse der Studie, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Durchschnitt in den untersuchten Nachrichtenformaten aber auch nicht vielfältiger oder ausgewogener berichtet hat als die Vergleichsmedien, obwohl man einen höheren Anspruch an ihn anlegen kann.
Freie Meinungsäußerung wird häufig als Recht auf Allgemeingültigkeit der eigenen Standpunkte missverstanden. Wie kann gesellschaftlicher Konsens im Einklang mit freier Meinungsäußerung wieder gestärkt werden?
Susanna Endres: Zentral bleibt zunächst die Erkenntnis, dass die eigene Freiheit dort endet, wo sie die Freiheit anderer einschränkt. Das gilt auch für die Meinungsfreiheit. Wenn durch Beleidigungen, Hass und Hetze auf medialen Plattformen ein Klima der Angst verbreitet wird, das andere Menschen – insbesondere vulnerable Gruppen – davon abhält, sich selbst offen und authentisch auf diesen Plattformen zu bewegen, kann dies aus medienethischer Sicht als problematisch angesehen werden. Hier bedarf es nicht nur klar definierter Gesetze gegen Hassrede, Verleumdung und Gewaltaufrufe, sondern auch Strategien und Maßnahmen zu deren Durchsetzung, wie z. B. einfacheren Meldemöglichkeiten. Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass das hohe Gut der Meinungsfreiheit nicht durch Überregulierung eingeschränkt wird. Neben rechtlichen Regelungen sind aber auch präventive Maßnahmen wichtig, die auf eine Verbesserung der Kommunikationskultur hinwirken können. Nicht zuletzt sind hier Bildungsmaßnahmen zu nennen, etwa zur Förderung medienethischer Kompetenzen.