Professor Bernd Henningsen spricht über sein neues Handbuch
In seinem umfassenden Handbuch „Nordeuropa: Handbuch für Wissenschaft und Studium“ nimmt Prof. em. Dr. Bernd Henningsen die Leser:innen mit auf eine faszinierende Reise durch Geschichte, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur des europäischen Nordens. Dabei verdeutlicht er die oft übersehene, aber entscheidende Rolle dieser Region in der europäischen Geschichte. In einem Exklusivinterview spricht der Herausgeber über die überraschenden Entdeckungen bei der Erstellung des Handbuchs, die Herausforderungen der Forschung und wie das Werk dazu beitragen kann, Wissenslücken zu schließen.
Herr Henningsen, Ihr Handbuch über Nordeuropa wirft ein Schlaglicht auf die oft unterschätzte Rolle, die Politik, Kultur und Menschen Nordeuropas in der gesamteuropäischen Geschichte gespielt haben. Welche Schlüsselaspekte oder Erkenntnisse haben Sie bei der Erstellung des Handbuchs besonders überrascht oder fasziniert?
Am Ende des Tages, in Betrachtung also des von uns angehäuften (Handbuch-) Wissens über Nordeuropa, faszinierte mich zum einen der Konsens, der unter den Autorinnen und Autoren besteht – egal aus welchem nationalen oder fachlichen Kontext sie kommen –, dass „Norden“ nicht mehr ungefragt mit „Bullerbü“ und „Hygge“ gleichzusetzen ist, dass auch diese Region von Realitäten geprägt ist, die auch unsere Realitäten sind, politische wie kulturelle; einen Exzeptionalismus gibt es weder zu beklagen noch zu idealisieren. Hier hinkt allerdings die öffentliche Wahrnehmung immer noch hinterher. Vielleicht kann das Handbuch helfen, diese Diskrepanz zu überwinden. Zum zweiten hat mich überrascht, dass es auch im Norden bisher keinen Versuch gegeben hat, eine umfassende und fundierte Wissensübersicht zur Region zu präsentieren – glaubt man doch im Norden an das regional Besondere, gelegentlich auch an eine Mission, die man hat. Und zum dritten hat mich die Bestätigung gefreut, dass der Norden ohne Europa historisch und kulturell nicht zu verstehen ist, dass aber auch Europa ohne den Norden ärmer wäre. Dieses Faktum wird im Norden gerne übersehen.
Das Nordeuropa-Handbuch unterstreicht die Notwendigkeit, die Lücken in der wissenschaftlichen Erforschung dieser Region zu schließen. Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Förderung eines umfassenden Verständnisses der Geschichte, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur des europäischen Nordens und wie kann dieses Handbuch dazu beitragen, diese Lücken zu schließen?
Das Handbuch soll Interesse wecken, es soll erste Informationen geben zu den genannten Wissensfeldern, mit ihm soll Druck gemacht werden und es soll die Neugier wecken, Wissensleerstellen zu füllen. Für die letzten zweihundert Jahre kann man eine intensive (und zuzeiten ja auch ideologisch gesteuerte) Beschäftigung mit den Literaturen und Sprachen des Nordens bilanzieren. Der europäische Norden hat aber mehr zu bieten, ist umfassender – das weiß, wer Natur schätzt, wer sich mit Energiefragen beschäftigt, wer neben Literatur Musik und Film goutiert, wer Wissenschaft im Norden kennt, die technologische Entwicklung verfolgt, wer auch ein Auge hat für politische Dekulturationen. Wünschenswert wären mehr breitgestreute, vor allem institutionalisierte Analyse und Forschung auf diesen Feldern durch Universitäten und außeruniversitäre Einrichtungen.
Mit der Beteiligung von 84 Expertinnen und Experten aus verschiedenen Ländern bietet Ihr Handbuch eine breite Perspektive auf Nordeuropa. Wie haben Sie sichergestellt, dass es die Vielfalt der Region angemessen repräsentiert und gleichzeitig ein kohärentes und umfassendes Bild des Themas vermittelt?
Nach einer karrierelangen Beschäftigung mit dem Norden und den damit verbundenen Kooperationen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, auch mit Vertretern aus der Politik, Forschungsaufenthalten dortselbst, kennt man nicht nur die Forschungsstärken, die abgearbeiteten Felder, sondern man kennt die Lücken und die weißen Wissens-Flecken, die Analysedesiderata. Hilfreich waren die Kontakte in die Kollegenschaft, viele haben dankenswerterweise beratend bei der Themensuche und der Lokalisierung von Kompetenzen geholfen.