Die Rolle der Wissenschaft im Kampf gegen Extremismus
Wir sprechen mit den renommierten Herausgebern des Jahrbuchs Extremismus & Demokratie über aktuelle Herausforderungen für unsere demokratischen Systeme. Prof. Dr. Uwe Backes, Prof. Dr. Alexander Gallus, Prof. em. Dr. Eckhard Jesse und Prof. Dr. Tom Thieme geben Einblicke in die Entwicklung von Extremismus und Populismus sowie konkrete Handlungsempfehlungen, um die Demokratie widerstandsfähiger zu machen.
Der Anlass
Das Wissenschaftsjahr 2024 widmet sich dem Wert und der Bedeutung von Freiheit in unterschiedlichsten Dimensionen und Kontexten. Angesichts der Krisen der Gegenwart stellt sich die Frage: Wie resilient ist unsere Demokratie? Welche Rolle kann die Wissenschaft dabei spielen, die Widerstandsfähigkeit der Demokratie gegen extremistische Bedrohungen zu stärken?
„Aus wissenschaftlicher Sicht sollte Grundlagenarbeit geleistet werden. Sie mag in historischer wie systematischer Hinsicht verdeutlichen, in welchem Maße Demokratie jene staatlich-politische Ordnung darstellt, die bislang am besten Gewalt eingedämmt und Frieden gewährleistet hat. Über freie Wahlen und pluralistische Parteien organisiert, scheint sie am ehesten geeignet, dem – keineswegs geschlossenen – Volkswillen in heutigen Massengesellschaften einen organisierten Ausdruck zu verleihen. Es hat sich dabei als heilsam erwiesen, die Volkssouveränität verfassungs- und rechtsstaatlich einzuhegen, nicht zuletzt auch zum Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten. Von den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, verantwortlich für verheerende Kriege und Genozide, wurden diese mit Füßen getreten. Diese bittere historische Erfahrung sollte im 21. Jahrhundert nicht in Vergessenheit geraten und uns stets von Neuem ins Bewusstsein rufen, welch wertvolle Errungenschaft der demokratische Verfassungsstaat darstellt. Und dies, obwohl er sich uns bisweilen als ebenso kompliziert wie abstrakt präsentiert und soziale Gerechtigkeit nur zum Teil gewährleisten kann. Wenn sich ein realistisches, weniger idealistisches Demokratieverständnis durchsetzt, dürfte sich die Demokratie auch in Krisenzeiten als widerstandfähiger erweisen.“
Ein Rückblick
Das von Ihnen herausgegebene Jahrbuch Extremismus & Demokratie erscheint seit 1993 im Nomos Verlag. Was hat sich in den vergangenen 30 Jahren im Bereich des Extremismus verändert?
„Bis zum Ende des „kurzen“ 20. Jahrhunderts war der Antagonismus von Demokratie und Extremismus zumeist markant. Heutzutage ist die Trennlinie schwieriger zu ziehen – nicht zuletzt eine Folge des Bedeutungsverlusts der klassischen extremistischen Großideologien Nationalsozialismus/Faschismus und Kommunismus. Extremistische Akteure bilden häufig keine ideologisch geschlossenen Kaderorganisationen mehr, in der alle Mitglieder auf Linie sind, um die wahre Lehre unters Volk zu bringen. Vielmehr handelt es sich meist um heterogene Zusammenschlüsse, in der gemäßigte und radikale Positionen koexistieren. Gerade die überall in Europa erfolgreichen Parteien rechts wie links bewegen sich in einer Art Grauzone zwischen Demokratie und Extremismus. Zudem treten vermehrt antidemokratische Phänomene auf, die sich der klassischen Rechts-Links-Unterscheidung entziehen. Das gilt für religiös-fundamentalistische Bestrebungen, für separatistische Tendenzen, für die sogenannten Querdenker wie auch für die radikalen Ränder der Klimaschutzbewegung.“
Die Momentaufnahme
Wie verhalten sich Extremismus und Populismus zueinander?
„Aufgrund der Grauzonenproblematik hat sich in Politik, Medien und Wissenschaft die Verwendung des Begriffs „Populismus“ als quasi Extremismus-light-Variante etabliert. Doch ein solches Verständnis führt in die Irre. Extremismus ist die Antithese zum demokratischen Verfassungsstaat, Populismus stellt den Antagonismus zwischen Volk und Elite in den Vordergrund. Die Begriffe Extremismus und Populismus liegen folglich nicht auf derselben Ebene. Mithin gibt es vier Varianten: 1. demokratisch und populistisch; 2. demokratisch und nicht-populistisch; 3. extremistisch und nicht-populistisch; 4. extremistisch und populistisch. Populismen bergen allerdings eine extremistische Tendenz, sofern sie den Anspruch erheben, dem (als homogen gedachten) Volkswillen gegen eine (als Einheit gedachte) politische Klasse (Establishment, „Blockparteien“) zum Durchbruch zu verhelfen. Dies ist ein klassischer Topos des Antipluralismus.“
Ein Ausblick
Welche neuen Herausforderungen sehen Sie für die Demokratie im Jahr 2024 und in den kommenden Jahren (auch mit Blick auf das Superwahljahr)?
„In Deutschland wie in anderen europäischen Demokratien haben populistische Parteien mit mehr oder weniger ausgeprägten extremistischen Tendenzen an Boden gewonnen und setzen die Parteiensysteme unter Druck. Die Gefahr besteht weniger in einem raschen Umkippen in autokratische Formen als in einem allmählichen Demokratieabbau, der zunächst schleichend und dann in immer dramatischeren Formen erfolgt. Die Extremismusforschung stellt diagnostische Mittel bereit, um solche Gefahren frühzeitig zu erkennen.“
Die Empfehlungen
Welche konkreten Handlungsempfehlungen geben Sie der Politik, der Zivilgesellschaft und den Bürgerinnen und Bürgern, um sich gegen Extremismus und für die Stärkung der Demokratie einzusetzen?
„Die demokratischen Parteien sollten sich auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen und extremistischen Bestrebungen und Entwicklungen jeglicher Art geschlossen entgegentreten. Zugleich müssen sie durch überzeugende politische Lösungsangebote mit Weitblick Extremismen das Wasser abgraben. Verbote können nur ein letztes Mittel sein und die politische Auseinandersetzung keinesfalls ersetzen. Statt pauschaler Zurückweisung bedarf es einer offenen Streitkultur ohne voreilige Stigmatisierung. Wer sich der Debatte mit Populisten/Extremisten aus Prinzip verweigert, befördert genau jenes Schwarz-Weiß-Denken, vom dem Extremisten profitieren. Auf diese Weise werden deren Vorurteile von der Abgehobenheit und Feigheit „da oben“ bekräftigt. Sich dem Antipluralismus von Extremisten entgegenzusetzen und den Anspruch auf Vertretung des „wahren Volkswillens“ im streitbaren Dialog zu entlarven, mag kein Vergnügen sein. Jedoch gibt es dazu keine demokratische Alternative. Not tut daher die dauerhafte Stärkung und Fortentwicklung demokratischer Kompetenzen. Dazu zählen Kenntnisse über das politische System und das Grundgesetz, aber mehr noch soziale Fähigkeiten wie Ambiguitätstoleranz, Konfliktfähigkeit und respektvollen Umgang mit politisch Andersdenkenden.“
Das Jahrbuch Extremismus & Demokratie richtet sich sowohl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als auch an die interessierte Öffentlichkeit. Wie kann eine breite Öffentlichkeit für das Thema Extremismus und Demokratie sensibilisiert werden?
„Das Problem liegt weniger in der fehlenden Sensibilität der Öffentlichkeit. Die Demonstrationen gegen den Rechtsextremismus seit Anfang des Jahres haben eindrucksvoll gezeigt, dass die „genervte Mitte“ keine Lust mehr hat, der politischen und gesellschaftlichen Verrohung durch eine krakeelende Minderheit länger tatenlos zuzuschauen. Was jedoch politisch, medial und öffentlich Not tut, ist ein verantwortungsvollerer Umgang mit dem Extremismusbegriff. Leider hat sich dessen Instrumentalisierung und Missbrauch in den vergangenen Jahren verstärkt. Umso wichtiger ist es, die Deutungshoheit über das Verhältnis von Extremismus und Demokratie nicht den Feinden der Freiheit zu überlassen. Dazu gehört auch, nicht jede unliebsame, aber im Kern demokratische Auffassung als extremistisch zu stigmatisieren. Umgekehrt verbietet sich die Rücksichtnahme gegenüber bestimmten extremistischen Positionen – sei es aus Opportunismus, sei es aus Überzeugung. Entscheidend ist, nicht mit zweierlei Maß zu messen. Denn wer dies tut, macht sich unglaubwürdig.“