Gespräch mit den Herausgeber:innen zum neuen Handbuchband „Zivilgesellschaftliches Engagement und Freiwilligendienste“
Ein Werk am Puls der Zeit: Der Band setzt sich multiperspektivisch und kritisch mit zivilgesellschaftlichem Engagement und Freiwilligendiensten auseinander. Im folgenden Interview geben die Herausgeberinnen und Herausgeber Prof. Dr. Christoph Gille, Prof. Dr. Andrea Walter, Hartmut Brombach, Benjamin Haas und Dr. Nicole Vetter Einblicke in den kritischen Geist, die Ambivalenzen, die Relevanz für Forschung und Praxis und die Schnittstellen des Handbuchs mit der Zeitschrift Voluntaris.
Das Handbuch vereint Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen und eröffnet damit einen breiten interdisziplinären Zugang zu zivilgesellschaftlichem Engagement. Welche Impulse erhoffen Sie sich durch diese Vielfalt für die Forschung und Praxis?
„Seit der Enquete Kommission zum Bürgerschaftlichen Engagement 2002 hat sich viel getan. Das Thema hat in der gesellschaftlichen Debatte enorm an Bedeutung gewonnen. Wir sehen das an neuen Formaten wie der stärkeren Nutzung digitaler Räume, dem Corporate Volunteering oder an der Ausdifferenzierung der Freiwilligendienste. Gleichzeitig ist das Engagement in bestimmten Bereichen wie der Flucht- oder Katastrophenhilfe noch wichtiger geworden. Und schon an diesen Beispielen zeigt sich, dass im zivilgesellschaftlichen Engagement ganz Unterschiedliches zum Ausdruck kommen kann: eine demokratische Grundidee der Beteiligung, eine Lücke in der Daseinsvorsorge oder sogar eine staatliche Indienstnahme, wie Annette Zimmer in ihrem Auftaktartikel zur Zivilgesellschaft beschreibt. Unser Handbuch will diese verschiedenen Facetten von Engagement darstellen, und das auch durch Einbezug der verschiedenen Disziplinen.
Gleichzeitig möchten wir die Debatte vertiefen: Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von zivilgesellschaftlichem Engagement sprechen? Denn auch rechtsautoritäre und undemokratische Akteure setzen sich ein, nur eben nicht für eine Gesellschaft der Gleichen, wie Roland Roth in seinem Artikel zur Dunklen Seite der Zivilgesellschaft ausführt. Für solche tieferen Auseinandersetzungen brauchen wir auch gute Forschung, dazu gehören zum einen bereits etablierte Instrumente des systematischen Monitorings, die Peter Schubert und Holger Krimmer vorstellen. Zum anderen aber auch genaue Rekonstruktionen, wie zum Beispiel zur Motivik im Engagement, die Bettina Hollstein handlungstheoretisch ausdifferenziert. Und das sind nur zwei Beispiele von vielen, die im Handbuch dargestellt werden.“
Ihr Handbuch beleuchtet nicht nur die aktuellen Entwicklungen im Engagement, wie die Digitalisierung, sondern auch kritische Perspektiven auf Machtverhältnisse. Warum ist es Ihnen wichtig, diese Ambivalenzen zu thematisieren?
„Im zivilgesellschaftliches Engagement spiegeln sich immer auch die gesellschaftlichen Verhältnisse wider. Es ist keineswegs frei von beispielsweise klassistischen, rassistischen oder ableistischen Ausschlüssen. Gerade in den letzten Jahren wurde dazu viel geforscht. Wir wollten kein reines Loblied auf Engagement singen, sondern die Ambivalenzen sichtbar machen. Dafür konnten wir viele spannende, renommierte und neue Stimmen gewinnen, darunter Seyran Bostancı und Emra Ilgün-Birhimeoğlu, Christopher A. Nixon, Rebecca Daniel, Tom Fixemer oder Tuuli-Marja Kleiner.
Machtverhältnisse prägen aber auch, was überhaupt als Engagement wahrgenommen wird. Ein gutes Beispiel ist das informelle Engagement, das in den letzten Jahren mehr Beachtung findet. Katja Jepkens und Anne van Rießen zeigen in ihrem Beitrag, wie Menschen, die über geringes Einkommen verfügen, oft eher im sozialen Nahraum aktiv sind, ohne ihr Tun als „Engagement“ zu labeln. Kein Wunder: denn gerade in Deutschland war Engagement immer auch eine Form der Distinktion privilegierter Gesellschaftsschichten, wie Paul Stefan Roß oder Gisela Notz in ihren Artikeln eindrücklich darstellen.
Schließlich haben wir auch durch unsere internationalen Perspektiven versucht, die enge Verwebung von gesellschaftlichen Konstellationen und den jeweiligen Engagementverständnissen aufzuzeigen. Das beginnt mit den Artikeln zu Österreich und der Schweiz und reicht beispielhaft bis zur Freiwilligenarbeit junger Geflüchteter in Uganda oder das transnationale Engagement in Städtepartnerschaften.“
In Ihrem Werk kombinieren Sie wissenschaftliche Erkenntnisse mit praxisnahen Ansätzen. Wie profitieren Akteur:innen aus der Praxis von den Erkenntnissen, die in den verschiedenen Abschnitten des Handbuchs vorgestellt werden?
„Das Handbuch versucht, Theorie und Praxis eng miteinander zu verbinden. Neben grundlagentheoretischen Kapiteln gibt es auch sehr anwendungsorientierte Abschnitte, zum Beispiel zu verschiedenen Engagementfeldern oder zur Begleitung von Engagement. Dort finden sich beispielweise Beiträge wie der von Carola und Oliver Reifenhäuser zum strategischen Freiwilligenmanagement, von Lisa Vollmer, die sich mit Engagement in der Wohnungspolitik beschäftigt, oder auch das Thema Sterbe- und Trauerbegleitung, das von Thomas Klie dargestellt wird.
Besonders wichtig war uns, dass alle Autor:innen die zentralen Erkenntnisse zu ihrem Thema kompakt zusammenfassen. Und die Themenpalette reicht von A wie Engagement im „Alter“ (Claudia Vogel und Julia Simonson) bis Z wie Engagement im „Zivilschutz“ (Stephan Lorenz et al.). Ergänzt wird das durch zentrale Literaturhinweise und ein Glossar, um das Handbuch möglichst praxistauglich zu machen und gute Orientierung zu bieten.
Ob das Konzept aufgegangen ist, entscheiden letztlich die Leser:innen. Wir freuen uns aber schon über erste positive Rückmeldungen, zum Beispiel von Catherine Sondermann und Bastian Schlinck vom Deutschen Roten Kreuz. Sie haben beispielhaft an den Themen Digitalisierung und Teilhabe geprüft, wie praxisfreundlich das Handbuch ist und uns ein gutes Zeugnis ausgestellt. Die Rezension ist im letztjährigen Newsletter für Engagement und Partizipation Nr. 24 erschienen.“
Als Herausgeber:innen der Fachzeitschrift „Voluntaris“ haben Sie bereits viele zentrale Themen rund um Freiwilligendienste und Engagement beleuchtet. Inwiefern ergänzt das Handbuch die Diskussionen, die Sie in der Zeitschrift führen, und wie können beide Formate voneinander profitieren?
„Die Auseinandersetzung mit dem Handbuch war für uns ein großer Gewinn. Zum einen hat sie uns geholfen, unsere eigenen Verständnisse und Überblicke über Forschungsstände zu schärfen. Wir haben einen noch besseren Überblick über die wissenschaftliche Debatte gewonnen und auch klarer erkannt, wo wir uns als einzelne und als Team verorten. Das heißt übrigens nicht, dass wir uns bei allem einig sind. Aber wer welche Positionen und Perspektiven vertritt, ist schärfer zutage getreten. Für uns eine Garantie, dass Voluntaris auch in Zukunft eine Plattform für eine möglichst breite und vielfältige Auseinandersetzung mit zivilgesellschaftlichem Engagement und Freiwilligendiensten bleibt.
Natürlich haben wir auch Lücken identifiziert, die wir in den kommenden Jahren angehen möchten. Zum Beispiel kommt das Thema Künstliche Intelligenz im Handbuch noch kaum vor, und die Engagementstrategie der Bundesregierung war zum Zeitpunkt des Schreibens noch nicht verabschiedet. Auch wollen wir genauer wissen, wie sich die Bedrohungen von extrem rechts auf zivilgesellschaftliches Engagement auswirken oder sind noch neugieriger geworden auf Engagementverständnisse, und -politiken in unseren Nachbarländern und darüber hinaus. Hier werden wir in den nächsten Jahren sicher versuchen, unsere Neugier zu stillen und laden die Engagement-Community aus Forschung und Praxis ein, uns dabei weiterhin zu begleiten.“