Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels im Gespräch über Euroskeptizismus, Populismus und die Zukunft der EU
Im Rahmen der Demokratiekampagne „Quo vadis, Demokratie?“ führten wir ein aufschlussreiches Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld (rechts im Bild) und Prof. Dr. Wolfgang Theodor Wessels (links im Bild), den Herausgebern des Jahrbuchs der Europäischen Integration. Anlässlich der bevorstehenden Europawahl am 9. Juni 2024 beleuchten die beiden Politikwissenschaftler die aktuellen Herausforderungen und Chancen, mit denen die Europäische Union konfrontiert ist. Von der Bedrohung durch zunehmenden Euroskeptizismus und Populismus bis hin zu den Möglichkeiten, die europäische Integration zu stärken – Weidenfeld und Wessels liefern eine tiefgehende Analyse der politischen Landschaft Europas.
Herausforderungen und Chancen der Europawahl 2024
Welche Herausforderungen sehen Sie für die Europawahl 2024, insbesondere im Hinblick auf den zunehmenden Euroskeptizismus und Populismus?
„Europa ist gefährdet von außen und von innen. Es droht mehr als nur eine große Krise.
Halten wir uns vor Augen: Die Einigung Europas war die große historische Antwort auf die Weltkriege und die vielen Millionen Todesopfer. Die Einigung Europas sollte Frieden und Freiheit schützen. Und das geschah auch über viele Jahrzehnte. Jetzt aber ist wieder ein Szenario des Unfriedens präsent. Nun ist Europa bedroht durch Kriege (Russland gegen die Ukraine, Nahost-Kriege) und durch die nationalistischen Auszehrungen von innen. Die Anti-Europäer melden sich immer lautstärker zu Wort. Europas Friedensbotschaft wird von innen ausgezehrt.
In einem großen Gegensatz dazu wirkt die Europäische Union attraktiv für viele Länder, die bisher nicht dazugehörten. Sie wollen nun unbedingt beitreten: Ukraine, Moldau, Albanien, Bosnien, Herzegowina, Nord-Mazedonien, Montenegro, Serbien, Kosovo. Die Attraktion für die Begehrlichkeit künftiger Mitglieder steht in einem scharfen Kontrast zu den inneren Krisen, Selbstzweifeln und Distanzierungen in der EU. Vor diesem Hintergrund ist die Baustruktur der EU zu verändern.
Es kommt nicht von ungefähr, dass nun das Streben nach strategischer Autonomie und strategischer Handlungsfähigkeit in das Zentrum konzeptioneller Nachdenklichkeit rückt. Die aktuellen Reformaktivitäten blieben weitgehend ergebnislos, so wie das Experiment der ‚Konferenz zur Zukunft Europas‘, bei dem viele tausenden Europäer die Gelegenheit gegeben wurde, Reformvorschläge einzubringen. Es war eine wirklich große Initiative – aber markante Reformschritte ergaben sich daraus bisher nicht. Populismus mit starken Formen eines Euroskeptizismus stellen besondere Herausforderungen für pro-europäische Parteien dar, die durch überzeugende Argumente und eine effektive Politik beantwortet werden müssen.“
Welche Chancen bietet die Europawahl 2024, um die europäische Integration zu stärken und die Zukunftsfähigkeit der EU zu sichern?
„Für die Wählerinnen und Wähler sind die Grundlagen einer Integrationspolitik erneut und zeitgemäß darzulegen.“
Themen und Trends der Europawahl 2024
Welche Themen werden Ihrer Meinung nach die Europawahl 2024 dominieren?
„Die dominanten Themen der Europawahl werden sein: Migration, Soziale Sicherheit, Umweltschutz, Verteidigung.
Deutschland ist nicht das einzige Land, bei dem rechtsextreme Kräfte eine politische Konjunktur erfahren. Man blicke nach Frankreich, Ungarn, Polen, die Niederlande und etliche weitere Staaten. Der Kampf gegen Rechts wird auch den Europa-Wahlkampf bestimmen.“
Zukunft der europäischen Integration
Wie sieht Ihre Vision für die Zukunft der europäischen Integration nach der Europawahl 2024 aus?
„Europa muss strategische Perspektiven entwickeln. Es darf nicht einfach in situatives Krisenmanagement abdriften. Das Krisenmanagement ist inzwischen ja zum eigentlichen Inhalt und Erscheinungsbild der Politik geworden.
Zu den Kernelementen des europäischen Narrativs zählen ja nicht nur seine hegemonialen Krisen sondern auch seine eindrucksvollen historischen Erfolge. Immer wieder ist die Frage nach den europäischen Gestaltungsprinzipien zu klären und dabei stellt sich die Frage nach der Führungsstruktur. Auch gegenwärtig liegt hier der Schlüssel, um die Ära der Konfusion zu beenden. Die Führungsstruktur ist zu klären, um strategische Klarheit zu bieten. Es geht also nicht um die Traumtänzerei in eine neue historische Epoche. Es geht um die zukunftsfähige Gestaltung von Interdependenz. Dazu bedarf es strategischer Köpfe.
Was ist weiter zu tun? Die Sicherheit muss neu und effektiv organisiert werden – von einer europäischen Armee bis hin zu europäischer Cybersicherheit und der transnationalen Organisation der inneren Sicherheit. Außerdem verlangt der politische Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion nach stärkerer Handlungsfähigkeit. Alles das kann nur in einer ‚Differenzierten Integration‘ realisiert werden. Nicht bei jedem neuen Aufbruch ist auf ein ‚Europa der 26‘ zu warten, sondern es ist auf die jeweiligen kooperationsfähigen Kreise abzuheben. Alles das sollte konzeptionell von einem strategischen Zukunftsrat gesteuert werden.
Ein Blick in die Geschichte zeigt: Krisen haben zu Lernprozessen geführt und dann zu Problemlösungen. Fehlende Antworten auf die Sinnfrage haben zu Katastrophen geführt. Die Orientierung des nächsten Europas ist also der geistige Beitrag zur Vermeidung der Katastrophe. Diese Orientierung muss auch Lösungen für die elementaren Problemkategorien der Einigung Europas bieten:
- die Frage nach der Legitimation
- die Sicherung der Transparenz
- die Klärung der Führungsstrukturen
- die weltpolitische Mitverantwortung.
Wie wurden bisher solche Schwierigkeiten erfolgreich angegangen? Die Erfolgsperspektive bot eine enge strategische Kooperation von Deutschland und Frankreich. So war es in den 50er Jahren mit dem Aufbruch zu den Römischen Verträgen und dem anschließenden Abschluss des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages. So war es in der Beantwortung des großen ökonomischen Niedergangs in den 70er und 80er Jahren, den man ‚Eurosklerose‘ nannte. Diesem schier unheilbar erkrankten Kontinent wandten sich der französische Präsident Mitterand und der deutsche Bundeskanzler Kohl zu. Sie kreierten gemeinsam die Wirtschafts- und Währungsunion. Dieser Ansatz bietet auch für die Gegenwart die Lösungsperspektive. Deutschland und Frankreich müssen gemeinsam die Lösung erarbeiten und umsetzen.“
Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld ist deutscher Politikwissenschaftler, Hochschullehrer und Politikberater. Von 1987 bis 1999 war er Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit. Er ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitherausgeber des Jahrbuchs der Europäischen Integration.
Prof. Dr. Wolfgang Theodor Wessels ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Er ist Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls ad personam für Politikwissenschaft, Professor im Ruhestand an der Universität zu Köln und Direktor des Centre for Turkey and European Studies (CETEUS) an der Universität zu Köln. Wessels ist Mitherausgeber des Jahrbuchs der Europäischen Integration.