Zeitenwende: Die Dringlichkeit einer neuen Sicherheitspolitik in Europa

02.07.2024

Zeitenwende: Die Dringlichkeit einer neuen Sicherheitspolitik in Europa

Ein Gespräch mit Autorin Dr. Bender über die geopolitischen Herausforderungen und die ethische Verantwortung in der heutigen Zeit

Dr. Bender, Autorin des kürzlich erschienenen Buches „Zeitenwende: Der Krieg gegen die Ukraine und eine Politik der Verantwortung in der Tradition Max Webers“, diskutiert in diesem exklusiven Interview die entscheidenden Faktoren, die sie zu ihrem Werk inspiriert haben. Die völkerrechtswidrigen russischen Okkupationen und der darauffolgende offene Krieg gegen die Ukraine im Jahr 2022 haben nicht nur die europäische Friedensordnung zerstört, sondern auch eine grundlegende Neuausrichtung der deutschen Sicherheitspolitik erforderlich gemacht. Dr. Bender betont die Notwendigkeit von Maßnahmen, die den Frieden und die Freiheit in Europa in Zukunft besser schützen sollen, und erläutert die Bedeutung einer Ethik der Verantwortung im politischen Handeln.

Welche Schlüsselaspekte der aktuellen geopolitischen Situation haben Sie dazu bewegt, Ihr Buch „Zeitenwende: Der Krieg gegen die Ukraine und eine Politik der Verantwortung in der Tradition Max Webers“ zu verfassen?

„Meine Schlüsselaspekte waren die völkerrechtswidrigen russischen Okkupationen auf der Krim und im Donbass im Frühjahr 2014. Russland testete damals die Reaktionen des Westens aus. Von den Minsker Friedensverhandlungen nicht entmutigt, eskalierte Putin im Februar 2022 mit einem offenen Krieg gegen die Ukraine und mit schonungslosem Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung und deren Infrastrukturen. Erschüttert verfolgte ich diese Entwicklung. Ich fühle mich Menschen nahe, die, wie die ukrainische Bevölkerung, nach freiheitlich-modernen Lebensformen und Unabhängigkeit von Fremdbestimmung streben. Auch gehöre ich einer Generation an, die jeden Schritt zur Entspannung in Europa, die Wiedervereinigung und die Beendigung der Ost-West-Konfrontation, leidenschaftlich begrüßte. Europa, das heißt seitdem für mich, in Frieden und Freiheit in einer Gemeinschaft von Staaten zu leben, die wechselseitig ihre Souveränität anerkennen und sich an die von ihnen unterzeichneten Verträge und Abkommen (Charta der UN, Charta von Paris) halten. Dazu gehört auch, dass Konflikte auf diplomatischem Weg, ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt, gelöst werden. Mitanzusehen, wie diese gewachsene vertrauensvolle Kultur der Begegnungen, des Erfahrungsaustauschs und der Kooperation durch den russischen Krieg zerstört wird, ist schwer zu ertragen.“

In Ihrem Buch betonen Sie die Notwendigkeit einer Neuausrichtung der deutschen Sicherheitspolitik. Könnten Sie uns einige konkrete Maßnahmen oder Strategien vorstellen, die Sie für besonders wichtig erachten, um den Frieden und die Freiheit in Zukunft besser zu schützen?

„Ein Teil der Bevölkerung und der politischen Klasse ging hierzulande davon aus, dass Landesverteidigung für Deutschland, mitten in Europa gelegen und mit Russland eng verbunden, sicherheitspolitisch bedeutungslos wird. Während meiner Zeit an der Universität der Bundeswehr in Hamburg wurden nicht nur die Streitkräfte reduziert und die Wehrpflicht ausgesetzt, auch die Erörterung außenpolitischer Sicherheitsstrategien verschwand aus dem politischen Diskurs. Erst die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz, drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, führte zu einer gesellschafts- und sicherpolitischen Neusaurichtung. Die Unterstützung der Ukraine und die Modernisierung der Bundeswehr erhielten höchste Priorität. Endlich nahm Deutschland, die stärkste europäische Wirtschaftsmacht, in Angriff, den geforderten Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung in der NATO zu leisten und dort den Aufbau der europäischen Säule voranzubringen. Dringend geboten ist die schrittweise Umsetzung der Initiativen zur Personalrekrutierung und Verankerung der Bundeswehr in der Bevölkerung durch eine moderne Wehrpflicht für Männer und Frauen. Die Neuausrichtung geschieht unter Zeitdruck. Inzwischen rüsten weltweit immer enger verbundene Aggressoren gegen die freiheitlichen Gesellschaften auf. Die Realisierung des Konzepts der Bundesregierung für eine integrierte Sicherheitsarchitektur, die nun auch innenpolitisch Schutz gegen CyberWar, Informationskrieg und Spionage bieten muss, wird tagtäglich herausgefordert.“

Sie sprechen von einer Ethik der Verantwortung, die in allen gesellschaftlichen Bereichen erforderlich ist, um mit den Herausforderungen der Zeitenwende umzugehen. Können Sie uns näher erläutern, was Sie unter dieser Ethik verstehen und wie sie sich in praktisches Handeln umsetzen lässt?

„In meinem Buch greife ich Max Webers Lehren zu einer Verantwortungsethik in der Politik auf. Unmissverständlich betont dieser Klassiker, dass die Verantwortung für die Sicherheit eines Staates die primäre Aufgabe der Politik darstellt. Politiker benötigten dafür vorurteilslosen Sachverstand. Wer demnach in seinem Handeln dem Motto folgt „Weil … nicht sein kann, was nicht sein darf“ (Christian Morgenstern), meint es vermutlich gut, aber letztlich schädigt er die Gemeinschaft, für die er Verantwortung trägt. Meine Analysen zeigen, dass die deutsche Politik zwar Gutes beabsichtigte, in der Sicherheitspolitik aber zu lange zögerte, im Bündnis mit der NATO und der EU vorbeugende Maßnahmen gegen Übergriffe Russlands zu ergreifen. Auch innenpolitisch ist in den letzten beiden Kabinetten von Angela Merkel ein gewaltiger Reformstau („Prokrastination“) entstanden ist – m. E. Ausdruck einer allgemeinen Krise der Führungskultur. Führungskräfte tun sich seit Langem schwer, ihre Macht und Herrschaft in nachvollziehbare Autorität umzusetzen. In ihrem Bemühen, es jedem Einzelnen recht zu machen, verlieren sie den Blick auf „das Ganze“. Sie setzen keine Prioritäten, geben den Individuen persönlich zu wenig Orientierung und die Gemeinschaft vermittelt kaum noch Zugehörigkeit, die schützt. Die Folge ist die Erosion des Sozialen und die Erzeugung von zerstörerischer Gegenmacht, die sich vom Ethos der Freiheit abwendet. In schwierigen Zeiten der inneren und äußeren Bedrohungen durch Aggressoren bedeutet Verantwortungsethik eine überzeugende Politik, orientiert an Machbarkeit und Stabilität der Arbeits- und Lebenswelt der Bevölkerung, von der zu erwarten ist, dass sie ihre Erfahrungen und Energien für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Freiheit einbringt.“

Europa, das heißt […] für mich, in Frieden und Freiheit in einer Gemeinschaft von Staaten zu leben, die wechselseitig ihre Souveränität anerkennen und sich an die von ihnen unterzeichneten Verträge und Abkommen (Charta der UN, Charta von Paris) halten.

Prof. em. Dr. Dr. Christiane Bender

Das Interview mit Dr. Bender bietet einen tiefen Einblick in die Motivationen und Überlegungen, die ihr Buch „Zeitenwende: Der Krieg gegen die Ukraine und eine Politik der Verantwortung in der Tradition Max Webers“ inspirierten. Ihre Betonung auf einer neuen Sicherheitspolitik für Deutschland und Europa sowie einer Ethik der Verantwortung stellt wichtige Impulse für aktuelle Diskussionen dar. Die Herausforderungen der Zeitenwende erfordern ein gemeinsames Handeln, das auf Prinzipien der Freiheit, Sicherheit und internationalen Zusammenarbeit beruht.

Dr. Benders Buch „Zeitenwende: Der Krieg gegen die Ukraine und eine Politik der Verantwortung in der Tradition Max Webers“ ist ab sofort erhältlich. Es wurde im Jahr 2024 von Academia veröffentlicht, umfasst 342 Seiten und ist unter der ISBN 978-3-98572-073-6 verfügbar.